Massenliteratur

An Kiosken und in Buchläden bilden sich im Dezember 1946 lange Schlangen – die ersten Zeitungsromane werden ausgeliefert! Kriegsproduktion und Bombenhagel, aber allem voran die Zensur der Reichsschrifttumskammer hatten Deutschlands öffentliche und private Bibliotheken in einem erbärmlichen Zustand hinterlassen. Die Zeit der Bücherverbrennungen war vorbei – endlich waren die verbotenen und verbrannten Autoren wieder zu lesen, denn oben auf der Tagesordnung der Besatzungsmächte stand die geistige Umerziehung des deutschen Volkes. Engagierte Verleger wie Ernst Rowohlt, die Bücher für das Volk produzierten, und damit Autoren und ihre Werke zu einem billigen Preis einem möglichst großen Publikum vorstellten, leisteten aus heutiger Sicht einen unschätzbaren Beitrag zum literarischen Wiederaufbau.

Zentrales Aushängeschild jeder der neu gegründeten Taschenbuchreihen war die Gestaltung des Schutzumschlags, der für den Markterfolg erhebliche Bedeutung gewann. Zum einen sicherte er durch seine vereinheitlichte Gestaltung den Wiedererkennungswert des Markenprodukts (hier: der Taschenbuchreihe), zum anderen beruhte der eben beschriebene Mitnahmeeffekt auch auf der Anziehungskraft des Einbandes, der den potentiellen Leser gefangennehmen sollte: Das Taschenbuch wurde zum Plakat seiner selbst, die Reklame ihm auf den Leib gebunden. Mit seinen „wirksam ins Auge fallenden Farben des Massengeschmacks passt es sich nicht nur im Preis, sondern auch optisch den Konsumgütern des täglichen Lebens an, wie sie von der modernen Industrie in Serie hergestellt wurden“ (Escarpit 1967). Über die Wirkung dieser in der zeittypischen Gebrauchsgrafik illustrierten Bände gibt es keine gesicherten empirischen Erkenntnisse; verschiedene Quellen berichten von Experimenten, wonach farbige Umschläge mal als verkaufsfördernd, mal als unnötig bezeichnet werden – gerade ihre Buntheit machte viele Taschenbücher wieder uniform.

Ein anderes Format der Massenliteratur manifestierte sich im Boom der privaten Leihbüchereien, die für kleine Beträge Werke zumeist der Trivialliteratur an ihr lesehungriges Publikum abgaben. Auch die Umschläge dieser Leihbuchreihen zeichnete eine reißerische Illustration aus und kann insofern als zeittypisch für das visuelle Erscheinungsbild von Massenkommunikation gelten. Als inhaltlich wie gestalterisch herausragend erwies sich die amerikanischer geprägte Reihe der „Krähen-Krimis“ aus dem Nürnberger Nest-Verlag von Karl Anders, in der erstmals in deutscher Sprache die Hard-boiled-Romane eines Raymond Chandler oder Dashiell Hammett erschienen. Deren Coverzeichnungen, angefertigt von den talentiertesten Gebrauchsgrafikern der Nachkriegszeit, werden heute als Ikonen der Wirtschaftswundergrafik angesehen.

George Orwell: 1984 (1. dt. Taschenbuchausgabe, 1952)

Taschenbuchreihen

Die Geschichte des Taschenbuchs in Deutschland begann mit der Einführung der Rotations-druckmaschine, die Ernst Rowohlt zunächst zur Herstellung seiner Zeitungsromane einsetzte. Zwischen 1946 und 1949 erschienen 30 Titel auf billigstem Zeitungspapier, in der damals unglaublichen Auflage von 100.000 Stück. Da andere Bücher wegen der Rohstoffknappheit kaum zu produzieren waren, verkaufte sich diese Wegwerfliteratur bestens. Von seinem Erfolg bestärkt, begann der Rowohlt-Verlag im Jahre 1950, statt der unhandlichen und empfindlichen Zeitungsromane die ersten Taschenbücher zu drucken.

Nachdem sich seine „rororos“ auf dem Markt etabliert hatten, zogen die anderen deutschen Verlage schon bald nach, um in dem lukrativen Geschäft mit der Massenliteratur mitmischen zu können. Beispielsweise gründete der S.Fischer Verlag seine „Fischer Bücherei“, und auch der Münchner List-Verlag verwertete seine Lizenzen in einer Taschenbuchreihe. Daneben existierten zahlreiche Verlage, die neben billiger Ausstattung auch zunehmend schlechte Stoffe zu vermarkten suchten, an die kaum literarische Maßstäbe angelegt werden durften. Nur einige dieser Verlage sind heute noch tätig, die meisten sind uns nicht einmal mehr dem Namen nach bekannt. Erst ab 1961, mit der Gründung des Deutschen Taschenbuchverlages dtv durch elf renommierte Verlagshäuser, konnte sich das Taschenbuch vom Ruch des Billigprodukts befreien.

Das Archiv umfasst primär Titel jener Verlagsreihen, die in den ersten fünfzehn Jahren nach Kriegsende (also bis 1960) gegründet wurden. Speziell berücksichtigt sind Vertreter des Kriminal-romans und der Trivialliteratur, denn diese Schmöker wiesen oft die innovativste Umschlaggestaltung auf und sollten eine lange Zeit das (schlechte) Image des Taschenbuchs prägen. Die Taschenbücher stellen die Keimzelle des Archivs dar, denn aus diesem Bestand wurde bereits in den 1990er Jahren, anlässlich des 50. Geburtstags des Taschenbuchs in Deutschland, die Wanderausstellung „Lesefutter fürs Wirtschaftswunder“ konzipiert, die in zehn Orten zu sehen war. Leihgaben zu zahlreichen weiteren Ausstellungen folgten, und derzeit ist eine umfassende, zweibändige Geschichte des Taschenbuchs (gemeinsam mit Reinhard Klimmt) in Vorbereitung.

Zweibändige Geschichte des Taschenbuchs in den 1950er-Jahren: "Reihenweise" (2016, mit Gesamtverzeichnis)

Jubiläumsband "50 Jahre rororo" (2000)

Austellungskatalog "Aus der Tasche in die Hand" (1997) 

Ausstellungszyklus "Lesefutter fürs Wirtschaftswunder" (1988 - 1996)

George Orwell: 1984 (1. dt. Taschenbuchausgabe, 1952) mit Schutzumschlag

Krähen-Krimis

Die „Krähen-Bücher“ sind zweifellos die bedeutendste Krimireihe der Nachkriegszeit, und die Gründung dieser Reihe im Nest-Verlag geht auf den Politiker, Publizisten und Verleger Karl Anders zurück, der 2007 im Mittelpunkt eines Lehrforschungsprojektes stand. Kurt Wilhelm Naumann, so sein Geburtsname, wurde 1907 in Berlin geboren. Geprägt durch ein sozialdemokratisches Elternhaus wurde Anders als junger Mann Gegner des Nationalsozialismus, die Emigration folgte. 1934 floh der damalige KPD – Funktionär unter seinem neuen Namen vor den Nationalsozialisten erst nach Tschechien, dann nach England. Seit seiner Flucht staatenlos, wurde Anders 1947 britischer Staatsbürger, war bei der BBC tätig und dort ab 1945 Deutschland-Korrespondent. In dieser Funktion und britischer Uniform berichtete er über die Nürnberger Prozesse und die Potsdamer Konferenz.

1946 gründete Anders den Nest-Verlag – eigentlich um politische und polarisierende Sachbücher in Deutschland zu verlegen und damit die Deutschen zur Demokratie zu erziehen. Als Brotgeschäft importierte er amerikanische Krimis der so genannten „hard-boiled“-Schule für seine Krähen-Krimis: Ambler, Chandler und Hammett sind einige der heute noch bekannten und hoch geschätzten Autoren, die für Anders auch einer demokratischen Grundhaltung Ausdruck verliehen. Humphrey Bogart wurde mit der Rolle des hartgesottenen Detektivs in „Der Malteser Falke“ weltberühmt. Die silbernen Krimis mit der Krähe als Logo waren damals Kassenschlager – sie gingen weg „wie warme Semmeln“, nicht zuletzt aufgrund ihrer unvergleichlichen Umschlaggestaltungen. Als Karl Anders, zwischenzeitlich als verdienter Demokrat mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet, im Februar 1997 verstarb, zierte seine Todesanzeige ein Raymond-Chandler-Zitat: „You were sleeping the big sleep, you were not bothered by things…“.

Im Rahmen einer Veranstaltung des Studiums Fundamentale bearbeiteten Studierende im Frühjahr 2007 den persönlichen und verlegerischen Nachlass von Karl Anders, der sich im Familienbesitz erhalten hat. Sie erarbeiteten eine umfangreiche Ausstellung, die zunächst in der Universitätsbibliothek Erfurt gezeigt wurde, und später parallel an gleich zwei Standorten in Frankfurt am Main, dem letzten Wohnort von Karl Anders, präsentiert werden konnte: in der dortigen Universitätsbibliothek und im ehrwürdigen Literaturhaus. Zu den Ausstellungen erschien der Begleitband „anders denken“, der als Referenzwerk für die gesamte Verlagsproduktion des Nest-Verlages gilt. Das Verlagsarchiv und die persönlichen Dokumente wurden von der Familie zwischenzeitlich dem Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn übergeben; im hiesigen Archiv existiert eine vollständige Reihe der Krähen-Krimis mit allen Schutzumschlägen in ihrer zeittypischen Visualisierung.

Monografie "Anders denken" (2007) mit Gesamtverzeichnis der Krähen-Krimis 

Ausstellung "Anders denken" (2007)

Ausstellung "Der Asche entstiegen" (1990) zu Krimireihen der 1950er-Jahre 

Raymond Chandler, Der tiefe Schlaf (dt. EA 1953)