Das Thema „WissensWelten“ spricht Frühneuzeitgeschichte als Wissensgeschichte an, und zwar unter zwei zentralen Aspekten: Zum einen zielt es auf Wissenskulturen und -milieus wie Hof, Stadt und Universität. Dabei ist keineswegs nur akademisches und gelehrtes Wissen gemeint, sondern vor allem dessen Interaktion mit anderen Wissenstypen wie sozialem, handwerklichem und bildlichem Wissen. Nicht zuletzt das in Praktiken lebendige und in Artefakten materialisierte Wissen, seine Gebundenheit an Stand und Geschlecht, seine Zirkulation in Netzwerken und Medien sollen in den Sektionen thematisiert werden. Die Wissensgeschichte hat im vergangenen Jahrzehnt eine rasante Entwicklung hin zur eigenen Teildisziplin genommen, mit Zeitschriftengründungen, Handbüchern sowie ausdifferenzierten Fragestellungen und methodischen Ansätzen. Dies gilt es zu reflektieren, auch im Hinblick auf neue Möglichkeiten, Probleme und Grenzen des Konzepts.
Zum anderen zielt der Begriff WissensWelten auf eine Globalisierung und Dezentrierung unseres Blickwinkels ab: auf Wissen in und aus anderen Weltregionen. Globale Wissensgeschichte ist jedoch mehr als nur eine Rekonstruktion von Wissenskulturen in außereuropäischen Milieus: Sie stellt die Frage nach den Verbindungen und Nicht-Verbindungen von Wissenswelten, nach Isolation oder Durchdringung, nach Transfer oder der Verweigerung von Transfer. Das Tagungsthema schließt dabei nicht nur an den schon länger formulierten Appell an, Europa zu „provinzialisieren“. Es nimmt auch die in jüngerer Zeit formulierte Skepsis gegenüber der Annahme allgegenwärtiger „Konnektivität“ auf und fragt deshalb nach Globalisierung ebenso wie nach De-Globalisierung. Auf diese Weise stellt es sich dem methodischen und konzeptionellen Problem, was Verflechtung in Bezug auf Wissen heißen kann. So meint "WissensWelten" beides: Wissenskulturen und globale Wissensgeschichte.
Das Tagungsthema greift damit sowohl den wissensgeschichtlichen Schwerpunkt des Forschungszentrums Gotha als auch den Standort der Residenzstadt auf: Höfisches Wissen vor dem Hintergrund von großen Sammlungen, Bibliotheken und Archiven, mit seiner Freiheit von akademischen Zwängen, aber auch seiner Bindung an dynastische Repräsentation, seiner Nähe zu militärischem, künstlerischen und womöglich sogar alchemisch-labortechnischem Know-How ist ein paradigmatischer Fall für die Wissensgeschichte. Der Hof bildet einen ganz eigenen Kosmos mit eigenen Möglichkeiten und Regeln, inklusive der Taktiken von Simulation, Dissimulation und Herrschaftsdurchsetzung. Daher lässt sich in ihm wie in einem Labor das kommunikative Setting beobachten, in dem unterschiedliche Wissensformen miteinander agieren. Dies lässt sich genauso gut wie in Gotha in Istanbul, in Delhi, in Peking oder in Kairo analysieren, möglicherweise mit jeweils ganz anderen Ergebnissen. WissensWelten gab es hier wie dort, und auch Berichte über die WissensWelten der anderen finden sich überall in den Archiven.
Die Tagung in Gotha soll einen weiten Bogen spannen und Sektionen sowohl zu europäischen als auch zu außereuropäischen Wissenskulturen sowie zu deren Verbindung umfassen. Dabei erscheinen insbesondere die folgenden Leitfragen relevant:
Auf welche Weise „reiste“, „wanderte“ oder „zirkulierte“ Wissen zwischen unterschiedlichen Kulturen? Welche aktive oder passive Rolle spielten dabei insbesondere Höfe – wenn sie Reisen finanzierten, Diplomaten empfingen oder fremdsprachige Bücher anschafften? Gab es Unterschiede zwischen der Zirkulation von „small facts“ und größeren Einheiten wie Theorien, komplexen Praktiken oder ganzen Weltanschauungen? Welche Trägergruppen spielten dabei eine Rolle? Gab es Unterschiede zwischen Transmissionen materieller Objekte und der von Ideen, und worin bestanden diese gegebenenfalls? Was für transkulturelle Bezüge wiesen Höfe, Handelsstädte, Universitäten oder Akademien auf? Spielte Skalierung dabei eine Rolle, agierten also kleine Höfe in Bezug auf Wissen anders als große? Hatte das einen Effekt auf die Transformation oder Nicht-Transformation von Wissensbeständen? Welche Adaptionen, aber auch welche Formen der Abwehr von Adaptionen sind jeweils zu beobachten? Gab es auch eine transkulturelle Zirkulation von Praktiken, bürokratischen Normen oder Bildmotiven? Welche Rolle spielten Nicht-Wissen, Nicht-Verbundenheit, Isolation und Missverstehen dabei? Welche politischen Implikationen besaßen bestimmte Wissenstransfers? Und schließlich: Wie lassen sich all diese unterschiedlichen und teils divergierenden Fragen und Aspekte methodisch und konzeptuell im Profil einer Globalen Wissensgeschichte verankern?
Das komplette Tagungsprogramm mit Sektionen und Begleitveranstaltungen wird im Sommer 2024 bekanntgegeben.