Welche Bedeutung hatte Friedrich Hölderlins Dichtung für Martin Heideggers Denken? Und welche Fragen, Chancen und Herausforderungen ergeben sich daraus für die aktuelle Heidegger-Forschung? Mit diesen und eng damit verknüpften Fragen fanden am 29. Mai 2021 Forscher*innen aus fast aller Welt im digitalen Raum zusammen, um das Verhältnis von Heidegger und Hölderlin, von Philosophie und Dichtung neu und speziell im Licht internationaler Vielheit auszuloten. Ursprünglich vor Ort im Martin-Heidegger-Archiv in Meßkirch angedacht, ‚übersetzten‘ die Organisatoren Holger Zaborowski (Universität Erfurt) und Alfred Denker (Martin-Heidegger-Archiv Meßkirch) die Fachtagung pandemiebedingt in ein eintägiges digitales Format mit zehn Beiträgen via Zoom. Die Tagung ist Teil einer Kooperation zur Heidegger-Forschung zwischen der Universität Erfurt und der Universidad de Sevilla. Das gemeinsame Projekt zielt darauf, neben aktuellen Debatten innerhalb der deutschsprachigen Forschungslandschaft rund um Heideggers Denken besonders jüngere und internationale Stimmen sowie Resonanzen, u.a. zum Philosophen und dessen Dichter, aus ganz Deutschland sowie Brasilien, Italien, Frankreich, Serbien und Spanien zu versammeln.
Was uns noch retten kann
Den Auftakt der Tagung machte Manuela Massa (Universität Halle), die mit ihren Ausführungen zur „Götterflucht in politischer Hinsicht“ den Auftakt für den weiteren Tagungsverlauf vorlegte. Geleitet von einem geschärften Blick auf den semantischen Zusammenhang von Dichtung und Politik stellte sie im feingliedrigen Gang durch die Werkgeschichte Heideggers die Frage nach Rettung ins Zentrum und überlegte vor diesem Hintergrund, welche (politische) Rolle der Dichterin und dem Dichter hier zukommen kann. Eine mögliche Antwort fand sie in Heideggers Hölderlinlektüre, die im Medium der Dichtung die Absage an die ‚alte Götterwelt‘ zu denken sucht sowie gleichermaßen die Ankunft des letzten Gottes bereiten will.
Georgios Karakasis (Universidad del País Vasco) schloss mit einer weiteren Verschränkung von Altem und Neuem an und wies auf eine ethische Dimension: Karakasis bezog sich speziell auf Heideggers Lesart Hölderlins „Der Ister“, insbesondere des ‚Heimeligen‘, das im Vortrag als Figur einer Gastfreundschaft im und des Fremden gewonnen wurde. Damit stelle sich die Frage nach dem Ursprung neu als die bevorstehende Begegnung mit dem Fremden. Der/Das Fremde erlaube es aufgrund seines je eigenen Ursprungs die Kategorie von Herkunft als Zurückliegendes zu überdenken und im gemeinsamen Aushandeln verschiedener Ursprünge fremder Wege und Begegnungen mit dem Unbekannten den eigenen Ursprung als immer neu Herzukommendes zu erfahren.
Rolando González Padilla (Universität Erfurt) erörterte die Frage, inwiefern bei Heidegger gerade durch die Auslegung der Dichtung Hölderlins die ‚eigentlichste Grundlage‘ des phänomenologischen Denkens erreicht wurde. Anhaltspunkt liefert dazu Heideggers Annahme, dass sich in der Dichtung die Wahrheit des Seyns ‚er-eignet‘. Die Dichtung eröffne Grundstimmungen, die wiederum Geschichte, d.h. Geschichte des Seyns ermöglichen. González Padilla untersuchte dazu das seynsgeschichtliche Denken Heideggers mit besonderer Rücksicht auf die Vorlesung Wintersemesters 1934/1935 „Hölderlins Hymnen ‚Germanien‘ und ‚Der Rhein‘“. Der Beitrag resümierte, dass seynsgeschichtliches Denken im Licht einer Grundstimmung von Dichtung aus Schmerz, Bedrängnis, Trauer und Leiden als eine ‚Pathetik‘ und ‚Pathologie‘ erfasst werden kann.
In den Abgrund von Zeit führte Mario Martín Gómez Pedrido (Universidad Nacional de San Martín Buenos Aires) als letzter Beitrag vor der Mittagspause, indem er die ‚ursprüngliche Zeitlichkeit‘ gegenüber der ‚Ewigkeit des Gottes‘ ausbuchstabierte. Am Beginn stellte Gómez Pedrido Hölderlins Begriff des ‚Zeit-Raums‘ als Treffpunkt zwischen Mensch und Gott. Dieser münde in die ‚Vergänglichkeit der Götter‘, wobei für Hölderlin der Gott selbst Zeit ist. Dem gegenüber wird der ‚Zeit-Raum‘ wesentlich als ‚Vergänglichkeit des Ewigen‘ charakterisierbar. Vor diesem Hintergrund zeigte der Beitrag Heideggers Lektüre der Göttlichkeit in Hölderlins Dichtung als ‚Abgrund-Zeit-Raum-Verflechtung‘ auf und schälte damit in der ‚Augenblick-stätte‘ eine ursprüngliche Zeitlichkeit, die ‚Temporalität des Seins überhaupt‘, heraus.
Die ontologischen Aspekte der Heideggers Hölderlin-Rezeption beleuchtete Tschasslaw D. Kopriwitza (Universität Belgrad) und diskutierte dazu das Konzept des Heimischen. Dieses bestimmt der Beitrag mit Heideggers Lektüre von Hölderlins Sophokles-Rezeption der Antigone als ontologische Setzung: Nämlich als das Unheimischsein im Heimischwerden, welches nichts anderes als die Zugehörigkeit zum Sein selbst sein kann. Im Gegensatz zum wesenlosen, ontischen Begriff des Kolonialismus finde Heidegger auf der Spur Hölderlins das gebildete Konstrukt eines ontologischen Begriffs der Kolonie wieder.
Michael Medzech aus Deutschland lud das Publikum ein, innerhalb ausgewählter Gedichte Hölderlins auf die konkrete Rezeptionspraxis des Philosophen zu schauen. Nicola Ramazzotto (Università di Pisa) konzentrierte seine Überlegungen auf die Pindar-Fragmente in Heideggers Hölderlinlektüre. Mit Blick auf die innere Struktur der Fragmente zeigte der Beitrag deren nicht geringe Bedeutung für Heideggers Denken. Tschasslaw D. Kopriwitza aus Belgrad und Juan José Garrido Periñán aus Sevilla fragten, ob und wie der deutsche Philosoph u.a. für ein postkoloniales und Ländergrenzen überschreitendes Denken beitragen kann. In diesem Licht dürfe, so Garrido Periñán, der gebürtige Meßkircher sogar als denkerischer Südländer verstanden werden. Im letzten Teil der Tagung arbeitete Elisabeth Kessler aus Paris heraus, wie Hölderlin Religion und Heilige im Denken Heideggers auf besondere Weise grundgelegt hat.
Mit Überlegungen zum Heiligen bei Heidegger und den Beitrag Hölderlins beschließt Holger Zaborowski (Universität Erfurt) die Tagung. Das Sakrale erlebe im Lauf der Werkgeschichte deutliche Veränderungen und könne deshalb in einer ‚Archäologie des Heiligen‘ einen anderen Zugriff auf Heidegger in seiner denkerischen Gesamtbewegung ermöglichen, der gerade für aktuelle Fragen in der Religionsphilosophie großes Potential bereithält. Während der frühe Heidegger das Heilige stark in der Auseinandersetzung mit Rudolf Otto und der Kritik am Neukantianismus verhandelt, ergeben die Nietzsche- und Hölderlinlektüre der 20er und 30er Jahre ein neues Denken vom Heiligen, nämlich als „jener Horizont innerhalb dessen nach der Nähe oder dem Entzug der ‚Gottheit‘ und ‚Gottes‘ gefragt werden kann“. Im Text "Der Fehl heiliger Namen" 1974 denkt das Heilige schließlich als das, das sich nur in seinem ‚Fehl‘ zeigen‘ und nicht mehr wie vormals konstatiert als Ereignis in der Dichtung Hölderlins aufscheinen. Mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte und aktuelle Heidegger-Forschung weist Zaborowski die Frage nach dem Heiligen als bleibendes Desiderat aus.
Neue Perspektiven und Rückkehr nach Meßkirch
Mit Ende der Online-Konferenz stand die außerordentliche und vielseitige Bedeutung der Dichtung Hölderlins für das Denken des Meßkircher Philosophen in neuer Klarheit fest. Gleichzeitig herrschten Hoffnung und Freude vor, sich zur nächsten Tagung wieder persönlich vor Ort in Meßkirch treffen zu werden.