DFG fördert neue Forschungsgruppe "Freiwilligkeit" an der Uni Erfurt
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt in den kommenden drei Jahren eine neue Forschungsgruppe unter dem Titel „Freiwilligkeit“. Beteiligt sind neben Wissenschaftler*innen der Universität Erfurt auch Kolleginnen und Kollegen aus Jena und Oldenburg. Die Forscherinnen und Forscher nehmen dabei den Begriff Freiwilligkeit aus historischer, soziologischer und philosophischer Perspektive in den Blick. Zentral ist die Frage, wie westliche vormoderne und moderne, aber auch außereuropäische Gesellschaften ihre Mitglieder über das Prinzip von Freiwilligkeit regieren. Das schließt etwa religiös motivierte Freiwilligkeit im mittelalterlichen Martyrium ebenso ein wie freiwilliges „Mitmachen“ in Diktaturen. Am Ende soll so Freiwilligkeit als Kernaspekt gouvernementalen Regierens präziser gefasst werden können als bisher.
Prof. Dr. Walter Bauer-Wabnegg, der Präsident der Uni Erfurt, gratuliert: „Die Förderung durch die DFG freut uns sehr und sie ist einmal mehr ein Beleg für die Qualität und auch die Breite unserer Forschung an der Universität."
Das Thema Freiwilligkeit ist von großer Aktualität: In den vergangenen vier Jahrzehnten haben westliche Gesellschaften Freiwilligkeit als zentrales Movens politischen und gesellschaftlichen Handelns profiliert. So hat eine Politik der Motivierung und Befähigung von Bürger*innen zu freiwilliger Selbstverantwortung zunehmend die sozialstaatliche Verantwortungsbereitschaft verdrängt. Doch nicht nur im Sozial- und Gesundheitssystem ist Freiwilligkeit eine wichtige Ressource, sondern auch in der Arbeitswelt. Auch heute noch sind Klassendifferenzen und Zwangsverhältnisse vor allem im Niedriglohnbereich sehr präsent. Zugleich aber sind flache Hierarchien und Flexibilität in vielen Arbeitsfeldern an die Stelle des „Normalarbeitsverhältnisses“ getreten und sehr gut dazu geeignet, Mitarbeiter*innen zu freiwilligem (Mehr)Engagement bis hin zur Selbstausbeutung zu veranlassen.
„Oft wird Freiwilligkeit zuvorderst mit ehrenamtlicher Tätigkeit assoziiert. Unsere Forschung soll jedoch darüber hinaus gehen und zeigen, wie Freiwilligkeit grundlegend und auf vielfältige Weise in unterschiedlichen historischen Formationen politische Teilhabe und gesellschaftliche Partizipation gespeist hat und speist – vom Kampf für Freiheit bis zum ‚Mitmachen‘ in Diktaturen, von privatisierter Wohlfahrtspolitik bis zu Verschuldungspraktiken, von Migration bis zum Märtyrertod“, erklärt Professor Dr. Jürgen Martschukat, der Sprecher der Gruppe „Freiwilligkeit“.
Zentrale Annahme des interdisziplinären Projekts ist dabei erstens, dass Freiwilligkeit nicht als Gegensatz von Zwang verstanden werden darf. Vielmehr operiert sie immer innerhalb vielfältiger (politischer, ökonomischer, sozialer, kultureller etc.) Bedingungsverhältnisse, die bestimmte Handlungsweisen sinnvoll und angebracht erscheinen lassen und somit erst möglich und bisweilen sogar nötig machen. Zweitens wird die Forschungsgruppe zeigen, wie Praktiken freiwilligen Handelns aufgrund ihrer Allgegenwärtigkeit und Unentbehrlichkeit zu einem politischen und gesellschaftlichen Muster gerinnen können, freilich je nach historischer Konfiguration in unterschiedlicher Dichte und Art.
Jürgen Martschukat: „Unser Erkenntnisinteresse richtet sich vor allem auf freiwilliges Handeln und wie es zum Idealtyp und modus operandipolitischer und gesellschaftlicher Ordnung werden kann, der bestimmte – historisch und kulturell variable – Handlungsweisen erwartet und dabei auch normativ ist. Damit zielt unser Forschungsprojekt auf die Dimensionen freiwilligen Handelns im Verhältnis von Mensch und Gesellschaft, denen wir aus gegenwartsanalytischen und vielfältigen historischen Perspektiven nachgehen werden.“
Ein weiteres Ziel der Forschungsgruppe ist es, über ihre Arbeit auch mit einer Nicht-Fachöffentlichkeit ins Gespräch zu kommen und ihre Forschung so immer wieder an den öffentlichen Debatten zu spiegeln. Martschukat: „Dies erscheint uns hier umso angebrachter und wichtiger, als dass Freiwilligkeit ein zentrales zivilgesellschaftliches Thema ist, das Menschen in ihrem Alltagsleben betrifft und im Zeitalter des flexiblen Kapitalismus auch Gegenstand einer immer wieder kritischen öffentlichen Diskussion ist. In diese Diskussion wollen wir uns einbringen und dabei auch die vielen Facetten von Freiwilligkeit aufzeigen, die Gegenstand unserer Forschung sind.“