In ihrer Brandt Lecture ging Dr. Almut Wieland-Karimi auf mehrere höchst relevante Aspekte der aktuellen Multilateralismus-Debatte ein. In den vergangenen 30 Jahren wurde das internationale System von einem multilateralen Modell dominiert, das unter anderem in der UNO, der WTO oder der Weltbank institutionalisiert ist. Dr. Wieland-Karimi bezeichnet diese 30 Jahre als "das goldene Zeitalter des Multilateralismus". Eine Zeit, die nun vorbei sei.
Obwohl ein wertebasiertes und prinzipiengeleitetes internationales System die Vision vieler ehemaliger Staatsoberhäupter war, stach ein ehemaliger deutscher Bundeskanzler besonders hervor. Eine "Welt der globalen Innenpolitik", so beschrieb Willy Brandt seine Vision für ein internationales System, und in seiner berühmten Rede zur Annahme des Friedensnobelpreises sagte er, dass
“Unter der Drohung einer Selbstvernichtung der Menschheit ist die Koexistenz zur Frage der Existenz überhaupt geworden. Koexistenz wurde nicht zu einer unter mehreren akzeptablen Möglichkeiten, sondern zur einzigen Chance zu überleben."(Willy Brandt, Nobel Lecture, December 11, 1971).
Dr. Wieland-Karimi nahm dieses Zitat als Inspiration, um ihr Verständnis von Multilateralismus in der heutigen Welt vorzustellen. Sie begann ihren Vortrag mit der Erläuterung, dass Multilateralismus nicht nur die Beteiligung mehrerer Staaten an Entscheidungsprozessen beinhaltet, sondern auch die Vertretung nichtstaatlicher Akteure (z.B. zivilgesellschaftlicher Organisationen). Darüber hinaus erörterte sie die Grundlage des Multilateralismus, nämlich Werte und gemeinsame Prinzipien. Je mehr sich die Staaten diesen Werten verschrieben haben, desto erfolgreicher der Multilateralismus, so Dr. Wieland-Karimi.
Im Hinblick auf die jüngsten Risse im internationalen multilateralen System ging Dr. Wieland-Karimi kurz auf den internationalen Rückzug aus Afghanistan und den russischen Krieg gegen die Ukraine ein. In beiden Fällen habe die internationale Sicherheitsordnung versagt. Im Falle Afghanistans kam Dr. Wieland-Karimi zu dem Schluss, dass der Versuch, einen Staat aufzubauen, in dramatischer Weise gescheitert sei. Die anhaltende humanitäre Krise zeige, dass das derzeitige Regierung nicht funktioniere.
In der Ukraine, so Dr. Wieland-Karimi, seien seit 2014 multilaterale Institutionen wie die OSZE und die EU präsent, um einen Waffenstillstand zu ermöglichen und die institutionelle Entwicklung zu fördern. Doch diese multilateralen Institutionen haben den Einmarsch Russlands in die Ukraine nicht verhindert. Dr. Wieland-Karimi erläuterte dieses Phänomen anhand der verschiedenen Interessen, die zwischen den westlichen Nationen und den BRICS-Staaten bzw. den Ländern des globalen Südens im Allgemeinen sehr unterschiedlich sind. Handelsbeziehungen, militärische Abhängigkeiten oder andere nationale Interessen halten Länder wie Indien oder China davon ab, den jüngsten Krieg Russlands zu verurteilen. Wenn man die Perspektive auf andere Länder ausweitet, kann man feststellen, dass viele Nationen tatsächlich mit keiner der Konfliktparteien verbündet sind. Da jedoch der Einfluss Chinas weltweit zunimmt, haben einige Länder, insbesondere in Afrika, Schwierigkeiten, eine eindeutige Position zu beziehen. Dr. Wieland-Karimi charakterisierte Chinas wachsenden Einfluss auch als eine Facette des Multilateralismus. Chinas Ziel ist es, seine Präsenz in traditionell westlichen Institutionen zu erhöhen und eine stärkere Rolle im globalen Kontext zu übernehmen.
Dr. Wieland-Karimi kam zu dem Schluss, dass der Multilateralismus an seine Grenzen stöße, wenn es man humanitäre Katastrophen oder andere globale Herausforderungen bewältigen will. Ihrer Meinung nach sollte man sich mehr auf konkrete Verbesserungen konzentrieren, anstatt zu versuchen, das gesamte System zu verändern. So könnte man beispielsweise alle diplomatischen Mittel nutzen, um die Blockade der Weizenexporte aus ukrainischen Häfen zu beenden. In der anschließenden Diskussion mit den Studierenden erwähnte sie, dass dies auch bedeuten könne, nicht-traditionelle Vermittler ins Spiel zu bringen. Im Falle der Ukraine könne diese Rolle von der Türkei oder Israel übernommen werden. Dr. Wieland-Karimi machte jedoch deutlich, dass die meisten Länder den Multilateralismus als System gar nicht ablehnen. Die verschiedenen Nationen haben lediglich sehr unterschiedliche Perspektiven und Interpretationen, wenn es um multilaterale Institutionen gehe. Der derzeitige Kampf um den Multilateralismus lässt sich daher so erklären, dass eine Gruppe von Ländern versucht, die "alten Regeln" der internationalen Ordnung aufrechtzuerhalten, während andere Länder versuchen, sie neu zu schreiben.
Die anschließende Fragerunde beendete die diesjährige Brandt Lecture, das Flaggschiff unter den Gastvorträgen der Willy Brandt School of Public Policy.
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