"Wir möchten Herausforderungen und Lösungen im Umgang mit der Pandemie sichtbar machen, vergleichen, Querschnittsthemen identifizieren, länderübergreifende Herausforderungen und Ressourcen benennen", erklären Julia Knop und Benedikt Kranemann die Ziele ihres Projekts. Die Pandemie bilde ja aus wissenschaftlicher Perspektive durchaus eine Laborsituation, in der Konflikte, Perspektiven, Neuansätze kirchlichen Lebens studiert werden können. "Wir wollen wissen, wie die Kirche in der Pandemie handelt, was ihre Themen und Interessen sind. Aber es geht uns auch darum, zu sehen, wie sich im Zuge dieses pandemischen Laboratoriums die Institution verändert und wie sie wiederum auf diese Veränderungen bzw. Veränderungsbedarfe reagiert. Mancherorts würde man lieber heute als morgen zu alten Gewohnheiten zurückkehren. Doch 'nach' Corona wird nicht nur die Situation, sondern werden auch die Menschen, also auch die Kirche, anders sein als 'vor' Corona. Vormalige 'kirchliche und spirituelle Üblichkeiten' werden nicht mehr einfach passen – wenn sie denn vor Corona wirklich Bedürfnissen entsprachen und nicht nur langer Gewohnheit folgten. Um es ganz vorsichtig anzudeuten, denn wir stehen noch sehr am Anfang: Es gibt quer durch die Länder, die wir bislang beobachten, die Tendenz, dass an der Basis zum Teil sehr innovativ gearbeitet wird und neue Formate für Seelsorge und Liturgie ausprobiert werden. Wobei es immer Ungleichzeitigkeiten gibt. Es gibt aber auch die Beobachtung, dass oftmals die Kirchenleitungen wenig beweglich wirken und theologisch sehr zurückhaltend sind."
Den Impuls zu dieser neuen Forschung lieferte die Tatsache, die Allgegenwart der Pandemie - auch im kirchlichen Leben: Die katholische Kirche steht derzeit nicht nur in Deutschland in einem gewaltigen Transformationsprozess. Wie reagiert eine Glaubensgemeinschaft mit ihren Ritualen, aber auch beispielsweise ihren großen sozialen und caritativen Institutionen auf eine solche Pandemie? "Wir sind selbst überrascht, dass beispielsweise über Gottesdienste in der Pandemie bisher vergleichsweise wenig geforscht worden ist", sagt Julia Knop. Herausforderungen sieht sie deshalb im kirchlich-theologischen Bereich in Liturgie und Pastoral, der Bildung und der Caritas. Dabei stellten sich die Fragen nach Sinngebung (in) dieser Situation neu: Welche Sinnressourcen hat Religion, um mit der Situation umzugehen? Wie werden sie in den verschiedenen Ländern artikuliert, wie wird Glauben praktiziert? "Man darf ja auch nicht vergessen, dass religiöse Praxis nach kirchlicher Einschätzung in hohem Maße gemeinsame Praxis und deshalb von den Kontaktbeschränkungen und Hygiene-Anforderungen empfindlich betroffen ist", ergänzt Benedikt Kranemann. Verändert sich das jetzt, und wenn ja, wie? Eine weitere Perspektive verbinde sich mit der Herausforderung der Digitalisierung: So werde beispielsweis über Liturgie und Digitalisierung oder Digitalisierung in der Seelsorge schon länger diskutiert. Aber jetzt habe sich gleichsam "über Nacht" die Situation verändert: Das kirchliche Leben ist kurzfristig über weite Strecken ins Digitale katapultiert worden. Was passiert dann mit alt-vertrauten Ritualen? Was entwickelt sich neu? Wer partizipiert hier?
Die Pandemie wirkt darüber hinaus für die bereits angesprochenen Transformationsprozesse wie ein Brennglas. Sie legt frei, welche (personellen, spirituellen, strukturellen, wirtschaftlichen) Ressourcen vorhanden sind und welche nötig wären. Was vor der Pandemie nicht eingeübt und gepflegt wurde, lässt sich in der Pandemie nur schwer aktivieren. Religiöse Kompetenz zur kreativen individuellen Bewältigung des Lebens, wie sie gerade jetzt nötig wäre, muss wachsen, damit sie auch in der pandemischen Ausnahmesituation wirksam werden kann. Strukturelle Probleme, kircheninterne Konflikte und Ungleichzeitigkeiten, die schon länger bestehen, brechen auf und werden sichtbarer, beispielsweise Disbalancen im Verhältnis von Klerikern und Gläubigen oder das Nebeneinander „entzauberter“ Welt- und Selbstverständnisse und magischer Restbestände in der Frömmigkeit.
Und, so sagen die beiden Theologen, man dürfe das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft nicht vergessen: Was erwartet die jeweilige Gesellschaft jetzt von der Kirche? Und wie reagiert diese darauf? "Schließlich misst man religiösen Menschen und Institutionen zu Recht eine besondere Sensibilität im Umgang mit Krankheit, Sterben und Tod, mit existenziellen Unsicherheiten und Ängsten zu. Aber wie dies im Einzelnen geschieht und ob kirchliche Angebote, mit solchen Herausforderungen gut umzugehen, als plausibel und hilfreich empfunden werden, wird im katholischen Polen vermutlich anders aussehen als in den säkularisierten Niederlanden. Der Vergleich ist hochinteressant und eröffnet einen neuen Blick für die Vielfalt in einer Weltkirche, die ja als eher uniform und homogen verstanden wird.
Ganz bewusst haben die Wissenschaftler für ihre Analyse nicht allein den Blick auf Deutschland gewählt, sondern wollen Vergleiche in ganz Europa ziehen: "Der europäische Vergleich ist uns wichtig, um das Handeln von Kirche in verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten beobachten zu können. Bislang gibt es verschiedene Projekte um Corona und Kirche, die doch sehr im nationalen Horizont bleiben. Wir versprechen uns durch den internationalen Vergleich, der ja immer noch auf Europa beschränkt ist, weitergehende Einblicke, wie eine Kirche auf eine solche Pandemie reagiert. Wer ist Akteur in einer solchen Zeit? Wie sind Kirchenbasis und Kirchenleitung involviert? Wie betreibt Kirche Seelsorge 'auf Abstand'? Wie antwortet man auf die drängenden Fragen und Sorgen von Menschen, und antwortet man überhaupt? Ist Kirche 'systemrelevant' und wenn ja, inwiefern? Und es geht immer auch um Gottes-, Menschen- und Kirchenbilder, die hier mitverhandelt werden. Der erste Workshop, der jetzt stattgefunden hat, zeigt: Hier gibt es viel zu entdecken und zu reflektieren."
Die Ergebnisse ihrer Forschung wollen die Wissenschaftler anschließend in einem Sammelband veröffentlichen, der bis 2022 vorliegen soll. Im Dezember 2020 gab es einen Workshop, der ihnen einen ersten sehr interessanten Einblick in das Thema gewährt und einen spannenden Austausch ermöglicht hat. Ein zweiter, ebenfalls digitaler Workshop ist für Februar geplant. Benedikt Kranemann: "Aber es geht uns eigentlich um 'work in progress'. Das bedeutet, unsere Arbeit wird hoffentlich immer weiter fortgeschrieben werden können."