Inklusive Pädagogik erfordert Persönlichkeitsentwicklung

Die kürzlich veröffentlichte Dissertation von Alexander Leuthold untersucht den Zusammenhang von Persönlichkeitsreife und der Professionalisierung von Pädagog*innen am Beispiel der Konzeptualisierung Inklusionsbezogenen Handelns.

Leuthold, A. (2020). Ego Development und Konzeptualisierung von auf Inklusion bezogenen Handlungsmöglichkeiten bei Studierenden erziehungswissenschaftlicher Studiengänge an der Universität Erfurt. Online unter: www.db-thueringen.de/receive/dbt_mods_00042950.

Den übergeordneten Kontext der Studie bildet das gesellschaftliche Leitmotiv Inklusion. Dieses prägt bildungswissenschaftliche Diskurse spätestens seit Inkrafttreten der UN-BRK. Es wird untersucht, wie (angehende) Pädagog*innen Inklusion und darauf bezogene Handlungsmöglichkeiten konzeptualisieren. Auf strukturell-inhaltlicher Ebene zielt die Untersuchung auf eine Meta-Konzeptualisierung inklusionsbezogenen Handelns. Auf methodologischer Ebene wird zusätzlich geprüft, inwieweit Loevingers Ego Development-Konzept forschungsmethodisch fruchtbar gemacht werden kann. Das Modell bildet den theoretischen Bezugsrahmen der Untersuchung und wird einführend zusammengefasst. Der Darstellung des Untersuchungsganges ebenfalls vorangestellt wird eine theoretische Betrachtung des Selbst-Begriffes.

Datenbasis des durch die Grounded Theory inspirierten Mixed Method Forschungsansatzes sind schriftliche Explikationen von 137 Studierenden verschiedener erziehungswissenschaftlicher Studiengänge (BA und MA) an der Universität Erfurt. Diese wurden im Rahmen eines fiktiven Zukunfsszenarios – ähnlich Dörners Tanaland und Lohhausen – mit nahezu unbegrenzter Macht ausgestattet und sollten darlegen, auf welche Weise sie als Inklusionsbeauftragte der Stadt Erfurt handeln würden. Sie absolvierten überdies eine Variante des Washington University Sentence Completion Test (WUSCT), mittels dessen eine Zuordnung der Teilnehmenden zu jeweils einer Stufe des Ego-Development-Modells erfolgte. Auf der Grundlage dieser Zuordnung wurden die schriftlichen Ausarbeitungen nach Entwicklungsniveaus geclustert und qualitativ analysiert.

Quantitativ zeigt sich eine zu über 90 Prozent konventionelle Ich-Entwicklung bei einer Streuung der Verteilung über die Ich-Entwicklungsstufen E4 bis E7, der Modalwert liegt bei E5. Die Verteilung ist im Einklang mit den Ergebnissen anderer relevanter Studien. Ein Vergleich mit diesen lässt außerdem bis zum mittleren Erwachsenenalter eine Verschiebung des Modalwertes nach E6 erwarten.

Qualitativ zeigen sich in Bezug auf Struktur, Stil und Inhalt charakteristische Konzeptualisierungen für die vier ermittelten Stufen. Die Entwicklung verläuft von einer konfus-fragmentarischen (E4) über eine selektiv-differenzierte (E5) und eine systematische (E6) zu einer prozesseröffnenden (E7) Konzeptualisierung von Inklusion. Die Bedeutungsbildung wird bis zur frühen konventionellen Entwicklung (E4) aus dem sozialen Umfeld übernommen, bevor sich eine eigenbestimmte Bedeutungsbildung losgelöst vom sozialen Umfeld entwickelt (E5, E6) und schließlich eine Veränderung der Bedeutungsbildung im sozialen Umfeld initiiert werden kann (E7). In Bezug auf Heterogenität zeigt sich auf der Ebene des begriffsbildenden Denkens eine allmählich steigende Fähigkeit diese auszuhalten, durch Differenzierung zu erzeugen (E5), zu integrieren (E6) und schließlich zu gestalten (E7).

Methodologisch wurde ein Forschungsvorgehen entwickelt, welches prinzipiell auf andere Gegenstandsbereiche übertragbar ist.

Insgesamt zeigen die Ergebnisse der Studie, dass etwa 60 Prozent der Studierenden entwicklungsbedingt (noch) nicht über die Möglichkeit verfügen, inklusionsbezogene Handlungsmöglichkeiten schlüssig zu konzeptualisieren. Der Befund verdeutlicht, dass Hochschule als ein Feld der Persönlichkeitsentwicklung begriffen werden kann. Aus dieser Perspektive liegt es nahe, pädagogische Ansätze der Hochschulbildung zu entwickeln, die über ein Verständnis von professioneller Kompetenz als horizontaler Zuwachs an Wissen und Können hinausgehen und vertikale Entwicklung konzeptuell adressieren und fördern.

Verfasser*in/Ansprechpartner*in

Foto Credits: Fotolia