Präventive und kurative Gesundheitsentscheidungen werden häufig als individuelle Kosten-Nutzen-Abwägungen konzeptualisiert. Einige Gesundheitsentscheidungen haben jedoch auch Konsequenzen für andere Personen. Diese positiven oder negativen Auswirkungen auf Dritte (Externalitäten) werden jedoch in der klassischen Sichtweise als Mechanismen und potenzielle Anreize bei Gesundheitsentscheidungen vernachlässigt. Impfungen beispielweise weisen oftmals positive Externalitäten auf, da sie ungeimpfte Personen dadurch mitschützen, dass die Übertragung von Krankheiten reduziert wird. Antibiotikakonsum hingegen ist ein Beispiel für negative Externalitäten, weil übermäßiger und unsachgemäßer Gebrauch zu Resistenzen führt und unbeteiligte Dritte zu Schaden kommen können, wenn Antibiotika nicht mehr wirken. Gesundheitsentscheidungen werden also zu sozialen Interaktionen, wenn sich die Entscheidungen mehrerer Individuen und deren gesundheitliche Konsequenzen wechselseitig beeinflussen und individuelle gegen kollektive Interessen abgewogen werden müssen.
Im Vorgängerprojekt „Ein interdisziplinärer Ansatz zur Erklärung und Überwindung von Impfmüdigkeit“ wurde die Impfentscheidung erstmals systematisch als soziale Interaktion auf Verhaltensebene analysiert. In drei Arbeitspaketen dieses Folgeprojekts bauen die Wissenschaftler aus Erfurt und Kopenhagen nun direkt auf dem erprobten Forschungsansatz der Analyse sozial-interaktiver Gesundheitsentscheidungen durch interaktive Entscheidungsaufgaben (Health Games) auf. Denn es hat sich wiederholt gezeigt, dass eine prosozial orientierte Impfaufklärung hilfreich ist, um die Impfbereitschaft zu erhöhen. Dies wird im ersten Arbeitspaket kritisch hinsichtlich fördernder und hinderlicher Moderatoren sowie Mediatoren untersucht. Weiterhin zeigen Studien aus dem Vorgängerprojekt, dass Individuen weniger impfbereit sind, wenn sie eine geringere Effektivität der Impfung wahrnehmen. Theoretische Modelle hingegen zeigen deutlich, dass dies normativ falsch ist, da mit sinkender Effektivität auch der indirekte Schutz abnimmt. Deshalb widmet sich das aktuelle Folgeprojekt nun im zweiten Arbeitspaket umfassend der Identifizierung und Evaluation verschiedener Debiasing-Strategien. Das dritte Arbeitspaket überträgt den Forschungsansatz auf den Antibiotikakonsum und untersucht Determinanten der Einnahmeentscheidung, um künftig Strategien zur Reduzierung übermäßigen Antibiotikakonsums entwickeln zu können. Hierfür wurde eine neue interaktive Entscheidungsaufgabe entwickelt, die die sozial-interaktiven Dynamiken bei der Entstehung von Antibiotika-Resistenz modelliert.
Projektleiterin Prof. Dr. Cornelia Betsch von der Universität Erfurt: „Die Arbeiten in unserem Projekt erweitern theoretische Modelle, da sich in den beschriebenen Dilemmata Verhaltensvorhersagen verändern, je nachdem ob die Externalitäten der individuellen Entscheidung berücksichtigt werden oder nicht. Die Erkenntnisse daraus werden dazu beitragen, evidenzbasierte Interventionen zur Reduktion von Impfmüdigkeit und übermäßigem Antibiotikakonsum zu entwickeln.“