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Nachgefragt: "Wie wichtig ist es für Kinder, sich in Krisensituationen in einer Fremdsprache ausdrücken zu können, Frau Prof. Schauer?"

Der Krieg in der Ukraine zeigt einmal mehr, wie schnell Krisensituationen dazu führen, dass sich zum Teil unbegleitete Kinder durch Flucht oder Vertreibung plötzlich in einem Land wiederfinden, dessen Sprache sie nicht sprechen.

Und auch unter den freundlichen Helfer*innen in den schutzgewährenden Ländern gibt es einen Teil, der selbst wenig Englisch spricht. Dabei ist es gerade in Krisensituationen – und dazu kann sich jedes ungewollte Getrenntwerden von Eltern und Kindern entwickeln, sei es im Urlaub, beim Ausflug oder im Einkaufszentrum – unabdingbar, sich verständigen zu können und dadurch mögliche Gefahren abzuwenden. Wir müssen unsere Kinder mit einem sprachlichen Rüstzeug, einer Art "Survival-English" ausstatten, fordert vor diesem Hintergrund Gila Schauer, Professorin für Angewandte Sprachwissenschaft mit Schwerpunkt Anglistik an der Universität Erfurt. "WortMelder" hat bei ihr nachgefragt: "Wie wichtig ist es für Kinder, sich in Krisensituationen in einer Fremdsprache ausdrücken zu können, Frau Prof. Schauer?“

"Es ist meiner Meinung nach essenziell und sollte eines der zentralen Ziele des frühen Fremdsprachenunterrichts sein. In den Lehrplänen ist Krisenkommunikation oder 'Survival English' leider oft nicht klar abgebildet. Stattdessen ist es in unterschiedlichen Kompetenzbereichen inkludiert, wie zum Beispiel in den Zielen für den Kompetenzerwerb für Hörverstehen/Hör-Sehverstehen und Sprechen, sowie in den Themen- und Kommunikationsbereichen im Thüringer Fremdsprachlehrplan für Grundschulen aus dem Jahr 2010.

In den Lehrplänen finden sich Komponenten, die Kinder im Fall einer Krise beherrschen sollten. So steht im Thüringer Lehrplan für den Kompetenzbereich Sprechen Folgendes:

  • sich oder jemanden vorstellen, begrüßen und verabschieden,
  • einfache Fragen stellen und darauf reagieren, z. B. zur Person, zur Familie, zu Lieblingsbeschäftigungen,
  • sich nach dem Befinden erkundigen und Auskunft über das eigene Befinden geben,
  • Wünsche und Vorlieben äußern, ihnen zustimmen oder sie ablehnen, 
  • zu gemeinsamen Handlungen auffordern, 
  • auf Aufforderungen reagieren,
  • Auskünfte einholen und erteilen, z. B. zu Ortsangaben.  (Thüringer Fremdsprachlehrplan für Grundschulen, 2010, Seiten 8-9)

In einer Krisensituation – und hier reicht das Spektrum einer Krise für Kinder von dem Getrenntwerden von Eltern oder Erziehungsberechtigten im Zoo/Einkaufszentrum bis hin zur Trennung aufgrund von Kriegen und Menschenhandel – sollten alle Kinder frühestmöglich in der Lage sein, im Minimum das Folgende zu kommunizieren:

  • allgemeinen Hilfsbedarf bzw. Aufmerksamkeit (z.B. 'Help!' oder 'I need help!'),
  • den eigenen Namen zu nennen und Angaben zu Person und Familie zu machen – dies vor allem auch in Frage-Antwort Situationen (z.B. What’s your name? / Where are you from? / Where are your parents? / What are your parents called / What are your parents names? / What happened?)
  • Gefühle, Empfindungen und körperliche Bedürfnisse (z.B. I’m hurt. / My leg hurts. / I have a headache. / I am hungry/thirsty. / I need to go to the toilet. / I need the toilet. / I need to pee.)
  • etwas abzulehnen oder zu verneinen ('I don’t want this. / That man is not my father! / I don’t know this woman!)

Meine Forschung zu Inhalten von Lehrmaterialien im Bereich des Grundschulenglisch hat gezeigt, dass das Ausdrücken von Gefühlen, Empfindungen und körperlichen Bedürfnissen sowie Verneinungen und Ablehnen leider teils sehr wenig in den Unterrichtsmaterialien vorkommen.

Hierbei ist vor allem wichtig, dass Kinder in der Lage sind, Fragen zu verstehen und zu beantworten, da von Kindern typischerweise keine längere Hergangs-  bzw. Problembeschreibung erwartet wird, wie es bei Erwachsenen der Fall sein kann. Das bedeutet aber auch, dass Kinder ein gutes Hörverständnis brauchen und zumindest Schlüsselbegriffe wie 'name' oder 'parents name' verstehen sollten und dies idealerweise auch dann, wenn die Aussprache der anderen Person nicht einem glasklaren British English entspricht (das oftmals in den Lehrmaterialien verwendet wird) oder die Person selbst mit der Grammatik zu kämpfen hat.

Ich denke viele von uns haben die Bilder des kleinen Jungen gesehen, der allein aus der Ukraine geflüchtet ist. In einer solchen Krisensituation wie dem Krieg in der Ukraine können unbegleitete Kinder auf Menschen in schutzgewährenden Ländern treffen, die selbst wenig Englisch sprechen. Aus diesem Grund sollten Kinder idealerweise im Unterricht oder auch zu Hause unterschiedliche Aussprachen kennenlernen und hinsichtlich des zielgerichteten Hörens von Keywords sensibilisiert werden. Dies lässt sich zum Beispiel auch zu Hause durch das Ansehen bekannter Kindersendungen wie Feuerwehrmann Sam (Fireman Sam) erzielen. Wenn Kinder die Handlung schon kennen bzw. diese einfach nachzuvollziehen ist, können Kinder die Fremdsprache durch einen Wechsel der Tonspur auf der DVD oder dem Streaming-Dienst kennenlernen. Fireman Sam ist übrigens ein ganz gutes Beispiel, da es sich im englischsprachigen Original um einen walisischen Akzent handelt, der zwar relativ gut verständlich ist, aber sich doch vom typischen Lehrmaterialstandardenglisch unterscheidet. Zudem lernen Kinder dort Vokabular für eine Reihe von Krisensituationen kennen. Der Einsatz von Kindersendungen ist also eine Möglichkeit, Kinder für Krisensituationen zu sensibilisieren und sie kindgerecht mit den notwendigen sprachlichen Mitteln vertraut zu machen.    

Meine Forschung zu Inhalten von Lehrmaterialien im Bereich des Grundschulenglisch hat gezeigt, dass das Ausdrücken von Gefühlen, Empfindungen und körperlichen Bedürfnissen, sowie Verneinungen und Ablehnen leider teils sehr wenig in den Unterrichtsmaterialien vorkommen. Das ist problematisch, da Kinder in der Lage sein sollten anderen mitzuteilen, wie es ihnen geht und ebenso auch wissen sollten, dass sie 'Nein' sagen dürfen. Letzteres ist auch hinsichtlich der Warnungen der Behörden vor Menschenhändlern und Sexualstraftätern, die sich an Bahnhöfen aufhalten und geflüchtete Menschen ansprechen, wichtig.

Kinder sollten im Fremdsprachenunterricht in der Schule oder auch zu Hause Sätze bzw. Formulierungen kennenlernen, die es ihnen ermöglichen Gefühle/Empfindungen/Bedürfnisse sowie Ablehnungen zu kommunizieren. Da manche Lehrmaterialien in dieser Hinsicht nicht viel Unterstützung bieten, würde ich den Einsatz von Kinderbüchern empfehlen. Sehr hilfreich ist zum Beispiel 'Monkey Puzzle' von Julia Donaldson und Axel Scheffler. In diesem Buch sucht ein kleiner Affe nach seiner Mutter und wird dabei von einem Schmetterling unterstützt, der ihm allerdings ständig falsche Tiere als Mutter vorstellt. Kinder lernen in diesem Buch nicht nur klar zu sagen, dass jemand nicht ihr Elternteil ist, sondern lernen ebenfalls wie Tiere (und auch Personen) beschrieben werden können. Eher für den Schulunterricht geeignet ist 'Owly – the way home' von Andy Runton. In dieser graphic novel (Comicroman) für Kinder rettet eine Eule (Owly) einen Wurm (Wormy), der aufgrund einer Naturkatastrophe von seinen Eltern getrennt wurde, und bringt ihn zu seinen Eltern zurück. Die Äußerungen von Owly werden grafisch und nicht durch Wörter dargestellt und laden so zu einer besonderen Art der Interaktion ein – allerdings sollte diese durch die entsprechenden Formulierungen der Lehrkraft gestützt werden, sodass Kinder beide Seiten der Konversation erfahren können. Dieses Buch bietet viel Potenzial zum Ausbau kommunikativer Fähigkeiten, da Kinder und Lehrkräfte gemeinsam diskutieren können, was Owly Wormy wohl gerade sagt.  

Körperliche Bedürfnisse, wie zum Beispiel die Notwendigkeit eines Toilettenbesuches, werden kaum in Lehrmaterialien thematisiert. Hier kann das Bilderbuch 'The prince and the pee' von Greg Gormley und Chris Mould die Beschäftigung mit dem Thema im Unterricht erleichtern. In diesem Buch macht sich ein Prinz auf den Weg, sein Schloss zu retten, und vergisst, zuvor auf die Toilette zu gehen, sodass er auf der Reise nach Möglichkeiten sucht, dies nachzuholen. Dieses humorvolle Buch kann als Grundlage verwendet werden, um Kindern relevante Formulierungen für den Toilettengang beizubringen von 'I need a wee' bis zu 'I need to go to the bathroom/toilet/loo' und 'May I go to the bathroom/toilet'.  

Wichtig ist: Kommunikation in der Krise ist in mehrsprachigen Situationen möglich, wenn sich alle Beteiligten bemühen und Kommunikationsprobleme kreativ angehen.   

Das Wichtigste an der Kommunikation im Krisenfall ist, dass das kommunikative Ziel erreicht wird. Im Fall von Kindern bedeutet dies, dass sie sich trauen, zu kommunizieren und die notwendigen sprachlichen Mittel haben, um mitzuteilen, erstens, dass sie Hilfe benötigen und zweitens, was das Problem ist und was sie nicht möchten bzw. was nicht der Fall ist. Im Fall von Krisenkommunikation ist die perfekte Beherrschung der Grammatik ebenso unwichtig wie die perfekte Aussprache. Fehlen Vokabeln, kann das durch Zeigen oder Aufmalen gelöst werden, sind Zeiten außer der Gegenwart problematisch, sollte man sich mit Wörtern wie 'last week, yesterday, tomorrow' etc. behelfen. Der Krieg in der Ukraine zeigt wieder einmal, wie schnell sich Krisen entwickeln können. Ich würde es mir deshalb sehr wünschen, dass wir weltweit unsere Kinder auf Kommunikation in einer Krise vorbereiten würden. Und ich wünsche mir auch, dass Erwachsene sich die Frage stellen, ob ihre eigenen Fremdsprachenkenntnisse es ihnen ermöglichen, Hilfe zu leisten und selbst an Krisenkommunikation teilzunehmen – zum Beispiel, wenn sie ein Kind allein antreffen, das sich in Not befindet und nicht Deutsch spricht. Falls Menschen feststellen, dass sie sich es nicht zutrauen, in einer Krise zu sprechen, würde ich ihnen kostenfreie Übersetzungsprogramme für das Smartphone empfehlen, die auch eine Aussprachefunktion haben. Und es gibt natürlich auch Sprachkurse, um verlorengegangene Fähigkeiten wieder aufzufrischen. Wichtig ist: Kommunikation in der Krise ist in mehrsprachigen Situationen möglich, wenn sich alle Beteiligten bemühen und Kommunikationsprobleme kreativ angehen.   

 

Weitere Informationen

Prof. Dr. Gila Schauer

Seminar für Sprachwissenschaft