"Viele Studierende, die ins Lehramtsstudium starten, fragen sich, was das mit der Sprecherziehung soll", erklärt Sophie Hohlbein vom Sprachenzentrum. "Sie haben zunächst keine Ahnung, wie wichtig ihre Stimme als Werkzeug für den Beruf ist, merken das aber dann ziemlich schnell und stoßen zum Teil auch an Grenzen, die sie vorher gar nicht kannten. Deshalb werden bei uns in der Sprecherziehung zunächst die grundlegenden Fertigkeiten der Studierenden geprüft und dann natürlich geschult." Anders als an anderen Universitäten müssen Studienanfänger*innen vor Antritt eines Lehramtsstudiums in Erfurt kein phoniatrisches Gutachten erbringen, um nachzuweisen, ob sie stimmlich und sprecherisch für das Lehramt geeignet sind. Und so kommt es nicht selten vor, das Studierende mit Stimmauffälligkeiten wie zu hoher Stimme, einem zu hastigen Sprechtempo, einem Stottern oder Lispeln ins Studium starten. "Diese Auffälligkeiten müssen innerhalb des Kurses erkannt, modifiziert und/oder in Kooperation mit therapeutischen Praxen behandelt werden", sagt Sophie Hohlbein, "damit die Stimme der ständigen Belastung im späteren Beruf gewachsen ist. Würden wir das nicht auffangen, hätte das Zukunftsängste oder sogar Studienwechsel zur Folge. Und das wollen wir natürlich, wenn möglich, verhindern."
Im Rahmen der nun erfolgten Datenerhebung wurden die stimmlich-sprecherischen Leistungen von insgesamt 176 Studierenden untersucht. So wurden neben der eigenen stimmlichen Reflexion zwei Stimmproben erhoben. Die Studierenden wurden dafür gebeten, den Text "Nordwind und Sonne" einzusprechen, der als "Goldstandard"-Text in der Stimmdiagnostik dient. Die Tonaufnahmen erfolgten sowohl am Anfang als auch am Ende des Semesters. Folgende Fragen standen dabei im Fokus:
- In welchen Bereichen der stimmlich-sprecherischen Leistungen zeigen die Studierenden vor Antritt des Sprecherziehungskurses die häufigsten Auffälligkeiten?
- Wie hoch ist die Rate der stimmlichen Auffälligkeiten und deckt sich diese mit aktuellen Studien?
- Zeigen sich durch einen 15-wöchigen Sprecherziehungskurs Verbesserungen in den stimmlichsprecherischen Leistungen der Studierenden?
Die Analyse der Stimmproben erfolgte mittels ausgewählter Faktoren der Stimmbeurteilung. So wurden die Rauigkeit, Behauchtheit und Heiserkeit (RBH) als Grad des Stimmklangs, die mittlere Sprechstimmlage, die Nasalität und die Artikulation im Sinne der Regiolektalität/Dialektalität geprüft. Außerdem wurden Faktoren des individuellen Wirkungsstils einbezogen. Die Analyse wurde durch drei Expertinnen aus dem Bereich Sprechwissenschaft/Sprecherziehung durchgeführt, wobei die Beurteilung individuell erfolgte und die Ergebnisse anschließend statistisch ausgewertet wurden.
Es zeigte sich, dass die Sprecherziehung als Studieninhalt speziell bei Lehramtsstudierenden grundsätzlich eine positive Wirkung auf die Qualität und Funktionalität der Stimme hat. So gab es bei den Studierenden nach sprecherzieherischer Intervention deutliche Verbesserungen im Bereich des Stimmklangs und der Sprechstimmlage. Sophie Hohlbein: "Das ist für uns ein klares Zeichen dafür, dass die Sprecherziehung bereits im Studium den Weg zum verantwortungsvollen und physiologischen Einsatz der Stimme im Sprechberuf ebnet." Gezeigt haben sich aber auch, dass für etwa 20 bis 30% der Studierenden die obligatorische Lehrveranstaltung zur Sprecherziehung nicht ausreicht, um stimmlich-sprecherische Auffälligkeiten abzumindern, da diese sich im pathologischen Bereich bewegen. Hier brauche es zusätzliche Einzelberatungen sowie ärztliche und sprachtherapeutische Interventionen, um die Studierenden auf die stimmlich-sprecherischen Belastungen im Berufsalltag vorzubereiten. Und leider stelle innerhalb des Semesters auch ca. 1% der Studierenden fest, dass ihre Stimmen den hohen Belastungen eines Sprechberufs nicht Stand hält – was häufig einen Fachwechsel zur Folge habe.
Während sich im Vorher/Nachher-Vergleich eine deutliche stimmliche Verbesserungen nachweisen ließ, zeigten sich dagegen im Bereich der Artikulation nur wenig oder gar keine Veränderungen. Hohlbein: "Es ist zu vermuten, dass dies zum einen mit der vergleichsweise kurzen Kursdauer und zum anderen mit der Corona-bedingt digitalen Umsetzung im Wintersemester 2020/21 zu begründen ist. So können in einem semesterbegleitenden Kurs nicht alle sprecherzieherisch relevanten Bereich so intensiv bearbeitet werden, dass die Studierenden sie optimal transferieren können." Darüber seien durch die audio- bzw. videobasierten Übertragungen artikulatorische Realisationen möglicherweise verfälscht und eventuelle Defizite im Kurssetting nur geringfügig bis gar nicht wahrgenommen worden, sodass sie innerhalb des Kurses nicht modifiziert werden konnten. Außerdem hätten sich die meisten Studierenden im Erhebungszeitaum am heimatlichen Wohnort befunden, wo in der Regel eine regiolektale Aussprache zum Alltag gehöre und sich die Veränderung hin zur "Standardaussprache" dadurch schwieriger gestalte.
Im Rahmen der Studie wurde außerdem geprüft, inwiefern die stimmliche Selbsteinschätzung der Studierenden mit der tatsächlichen individuellen Stimmleistung korreliert. In Einzelgesprächen zeichnete sich ab, dass die Studierenden stimmliche Leistungen und sprecherisch-sprachliche Leistungen während der Beantwortung des Fragenbogens nicht klar voneinander abgrenzten. So betrachteten sie die Stimme als Instrument und den individuellen Sprech- Denk-Vorgang (Füllwörter, Satzbau, Wortfindung) als Einheit „Stimme“. Eine Vergleichbarkeit gestaltete sich deshalb als schwierig. Sophie Hohlbein: "Vor diesem Hintergrund würden wir zwar auch künftig Selbsteinschätzung und tatsächliche individuelle Stimmleistung miteinander vergleichen, dann die „Stimme“ und deren Leistungsfähigkeit jedoch vorher klarer definieren müssen."