Fazenda Avenida
// Sebastian Dorsch – 2019
Der britische Reisende Gray Bell zeigte mit diesem Photo 1914 eine nach ihm alltägliche Szene auf der Avenida Central in Rio de Janeiro. Rio wie auch viele andere Städte nicht nur Lateinamerikas wurden in dieser Zeit nach Pariser Vorbild umgebaut: Große Boulevards und Prachtbauten entstanden („Hausmannisierung“) und begüterte Frauen und Männer lebten die Latinité beim Flanieren, beim Fazenda Avenida.
Warum ist dieses Photo für unser zweites West Window interessant? Was ist westlich an der Latinité und an Lateinamerika? Der Begriff América Latina entstand im Zuge des Aufkommens der transatlantischen Latinité-Diskussionen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, also in einer Zeit der vielfach so wahrgenommenen raum-zeitlichen Fortschrittlichkeit und des Vordringens der angelsächsisch-protestantischen Welt. Die Amerikas südlich der USA – heute wieder Ort und Emblem massiver Abgrenzungsversuche – waren über Jahrhunderte der Inbegriff des Aufbruchs in eine Neue Welt und in eine Neue Zeit gewesen. Seit dem 19. Jahrhundert, nach dem Zusammenbruch von Handel und Wirtschaft während der Unabhängigkeitskriege, oszilliert die Region zwischen „The West and the Rest“ (so u. a. der Titel eines viel diskutierten Werkes von Niall Ferguson: Rezension FAZ, Rezension NYTimes).
Ist nicht gerade dieses erfolgreiche raum-zeitliche Ausgrenzen („Othering“) bei gleichzeitigem, ebenfalls erfolgreichem raum-zeitlichem Globalitätsanspruch ein Markenkern des Westens?