Im Westen die Westen: die Revolution als Wiederholung oder die Wiederholung als Revolution?
// Sergey Sistiaga – 08.03.2019
Über die Gelbwesten in Frankreich
Seit Ende Oktober gibt es die Gelbwesten. Der symbolische Rückgriff auf die den Westen so bestimmende Französische Revolution fällt auf: Trikolore, phrygische Mütze, Marseillaise, Guillotine. Dann die cahiers de doléances (Beschwerdehefte), die Entstehung von Bürgerversammlungen im Netz, aber vor allem an Kreisverkehren, von patriotischen Vereinigungen zur „Verteidigung der Nation“. Auch der Grundtenor der oft inkohärent anmutenden Forderungen lässt den Vergleich legitim erscheinen: die Forderung nach der Destitution des Präsidenten, der Abschaffung vermittelnder Körperschaften, der finanziellen Ungerechtigkeit und nach Kontrolle der gewählten Vertreter sowie das Eintreten für direkte Demokratie unterstreichen dies. Neben den symbolischen (Bild 1, Bild 3, Bild 4) gibt es auch intellektuelle Bezugnahmen, wie Bild 2 zeigt. Inwiefern nichtwestliche Referenzen (Bild 5) von Bedeutung sind, lässt sich, wie vieles, noch schwer beurteilen.
Angesichts dieser vielfach bemerkten Umstände stellt ein Artikel von Temps critiques, veröffentlicht am 19. Februar 2019 auf lundimatin, einem noch jungen Hybrid aus Onlinezeitschrift und Papierausgabe – die Gelbwesten in kritischer Sympathie reflektierend – zwei Fragen, die wir aufgreifen wollen:
1. Welcher Wert wird von der Französischen Revolution und den Gelbwesten geteilt?
2. Warum fungiert gerade die Französische Revolution als Referenzmodell und nicht die Arbeiterrevolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts?[1]
Auf die erste Frage antwortet der Artikel, dass das Streben nach universaler menschlicher Gemeinschaft beiden „Momenten“ zugrunde liege. Dabei sieht der Autor oder die Autoren des anonymen Artikels sowohl in der Form als auch in der Extension der demokratischen Deliberation einen wesentlichen Unterschied. Während die verschiedenen Fraktionen damals das bis heute praktizierte repräsentative parlamentarische System nicht zuletzt auch mit der Nationalgarde durchsetzten und zugleich den nichtbürgerlichen und radikaleren Gruppen, den Hébertisten oder Enragés, die Repräsentation verweigerten, sei die Bewegung der Gelbwesten weniger durch die Formel „direkte Demokratie“, sondern durch „direkte Aktion“ gekennzeichnet. In der Tat lehnen die Gilets jaunes bisher jegliches Vertretungsverhältnis ab. Die Einheit der Mannigfaltigkeit garantiere lediglich das grelle Gelb in seiner unvermittelten Anschaulichkeit.
Eine Feststellung über die soziologische Zusammensetzung der Gelbwesten leitet die Antwort auf die zweite Frage ein. Diese setzen sich kaum aus dem stets marginaler werdenden Arbeitermilieu zusammen, sondern vornehmlich aus dem Dienstleistungsgewerbe, dem Gesundheitsbereich, Transport, Einzelhandel, prekären Lohnabhängigen, aber auch Bauern und Rentnern. Die Gilets jaunes, so der Artikel weiter, stellten sich also nicht in eine Linie mit der durch diverse Mittel „besiegten“ oder angepassten Arbeiterbewegung. Das liege vor allem daran, dass die Arbeitskraft selbst nicht mehr bevorzugtes Mittel der Kapitalverwertung in Frankreich sei. Deshalb könne nur die Französische Revolution als gemeinsame symbolische Referenz dienen.
Die Analogie zwischen beiden Ereignissen, so der abschließende Gedanke, sei hingegen nur vordergründig, denn mit dem Scheitern der letzten proletarischen Widerstände Ende der 1960er Jahre habe die Bourgeoisie die Französische Revolution zu Ende geführt. Der die Moderne kennzeichnende Zyklus der Revolutionen sei erschöpft. Wir lebten in einer „kapitalisierten Gesellschaft“. Viele suchten einen Ausweg aus ihr und der planetarischen Naturzerstörung, endet der Beitrag in der unsere Zeit charakterisierenden Rat- und Ziellosigkeit.
Die Revolution also ist zur Revolution verkommen. Zur Wiederholung, die sich nicht wiederholen kann, weil sie auf ganzer Linie gesiegt hat, so kann man womöglich den Gedanken weiterführen. Dieser Ansicht liegt die Unterstellung zugrunde, dass die Französische Revolution ihrem Wesen nach eine bürgerliche war, der Rückgriff auf sie also gerade nicht das Potential birgt, die „kapitalisierte Gesellschaft“ zu überwinden; aus ihrem „verhängnisvollen Zirkel“ auszubrechen, mithin, so muss man den Artikel verstehen, also keine wahre Revolution als Wieder-Holung des universell Menschlichen sein kann, weil die bürgerliche Gesellschaft notwendig die Herrschaft des Menschen über den Menschen impliziert und dadurch mit universellen Werten, dem kategorischen Imperativ, also kategorisch unvereinbar ist.
Gerade aber dieser Sachverhalt zeigt auf, dass der Universalismus, den der Artikel der Französischen Revolution wie den Gelbwesten zuschreibt, sich nicht mit der „kapitalisierten Gesellschaft“ vereinbaren lässt. Die universelle Herrschaft dieser als Universalisierung von Partikularinteressen ist falsche Universalität. Wahre Universalität wäre, wenn diese im Partikulären selbst gegründet wäre. Sie kann also nur herrschen, wenn die Menschenrechte universell durchgesetzt werden: nicht in abstracto, sondern in concreto. Nur dann wäre Universalität erreicht. Der Universalitätsanspruch, er mag bürgerlichen Ursprungs sein, transzendiert notwendig die auf Partikularinteressen gegründete bürgerliche Gesellschaft, weshalb man dem Artikel in dieser Hinsicht nur widersprechen kann, um festzuhalten, dass die Französische Revolution noch nicht gesiegt hat. Der Artikel verkennt in seinem nostalgischen Defätismus angesichts des Niedergangs und der Korruption der Arbeiterklasse und unter der impliziten Annahme, sie sei einzig legitimes Subjekt der Revolution, den intrinsisch revolutionären Charakter des Bürgertums selbst, denn sofern letzteres sich beim Wort nimmt, kann und muss es sich selbst überwinden. Tut es dies nicht, ist es freilich Heuchelei. Das entscheidende ist, dass man es dieser bezichtigen kann.
Die Kinder aus dem Bürgertum, die „für“ oder „gegen“ das Klima – angesichts der wissenschaftlich attestierten Apokalypse versagen die Präpositionen – auf die Straße gehen, deuten dies an. Die Wissenschaft selbst, die Autorität unserer Zeit und eine doch immer noch recht bürgerliche Angelegenheit, zeigt uns unmissverständlich auf, dass die Verhältnisse grundlegend verändert werden müssen, will die Menschheit leben. Das Bürgertum wird also nicht mehr an die Glorie seiner hehren Ideale erinnert, sondern an seinem Fundament selbst gepackt werden müssen: dem Eigeninteresse. Das Bürgertum muss sich und seine Gesellschaft selbst abschaffen, will es überleben. Ob es will, ist eine andere Frage. Die Gelbwesten immerhin wollen leben.
Stehen sie für eine Erneuerung des Westens? Ihre Heterogenität macht es unmöglich, sie zu klassifizieren. Es handelt sich daher wohl eher um eine Rekonstituierung des Politischen (gegenüber der Politik) überhaupt, die bisher jeder Spezifizierung in traditionelle Kategorien notwendigerweise entgehen muss. Die häufig anzutreffenden Klassifizierungsversuche allerdings verwenden – das fällt auf – klassisches politisches Vokabular: Nation, Staat, Volk, Souverän, Sozialstaat, Liberalismus, Kapitalismus, Faschismus, direkte Demokratie, Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus, usw. Jenseits aller Diversität scheint also zumindest eine dezidierte Kontinuität mit der Moderne und ihren politischen Aggregatzuständen zu bestehen. Die Westen sind also durchaus als westliches Phänomen einzuordnen und repräsentieren in ihrer Verschiedenheit den Okzident in einer Bandbreite, die heute nicht immer berücksichtigt wird.
[1] Alle Zitate beziehen sich auf den Artikel: "L'envie de Révolution française des Gilets jaunes".