Griechenland – ein europäisches Land zwischen Ost und West in den Zeiten der Finanzkrise
// Vasilios N. Makrides – 12.08.2019
Griechenland ist ohne Zweifel ein in vielerlei Hinsicht besonderes Land Südosteuropas - nicht zuletzt aufgrund seiner vielfältigen, historisch wichtigen Beziehungen zu Westeuropa und im Allgemeinen zur westlichen Welt. Das antike griechische Erbe, vor allem in geistesgeschichtlicher Hinsicht, spielte beispielsweise eine inspirierende Rolle für die Genese und Entfaltung der westeuropäischen Neuzeit und Moderne und hat bis heute nachhaltige Spuren hinterlassen. Auf der anderen Seite war die "Westbindung" des Landes keineswegs eine eindeutige und stets umstritten. Dies haben unter anderem die jüngst sich ereignende tiefe Finanzkrise und deren verheerende Folgen unter Beweis gestellt. Diese Krise hat nämlich eine breite Welle antiwestlicher Stimmen und Strömungen im Lande hervorgerufen, auch wenn das westliche Land par excellence heutzutage, die USA, als eifriger Unterstützer Griechenlands während dieser schwierigen Phase hervorgetreten ist. Antiokzidentalismus und seine modernen Zweigerscheinungen (Antiamerikanismus, Antieuropäismus, Antiglobalismus) sind ohnehin ein dauerhaftes Merkmal des modernen Griechenland und blicken auf eine reiche und lange Vergangenheit zurück, die auf die Zeit der Spätantike und des Auseinanderdriftens vom Ost- und Weströmischen Reich zurückgeht. Das ganze Thema hat zudem eine unübersehbare religiöse Komponente, denn die christliche Orthodoxie war im Osten immer eine Quelle antiokzidentaler Orientierungen und Handlungsoptionen. Trotz dieser längst etablierten Entzweiung und Entfremdung der beiden Welten gab es immer wieder etliche Austauschbeziehungen und rege Kontakte zwischen Ost und West auf unterschiedlichen Ebenen, sodass eine völlige und hermetische Abkopplung beider Teile Europas nie zustande kam.
Nach der Gründung des modernen griechischen Staates 1830 hatte man sogar systematisch versucht, das Land zu verwestlichen bzw. zu modernisieren, jedoch waren die Ergebnisse dieser Prozesse immer gemischt. Es zeigte sich immer wieder, dass das Land eine starke, teilweise vorherrschende nicht-westliche Präferenz hatte, die sich in verschiedenen Bereichen niederschlug, von der Religion und der Kultur bis in die Politik und die Gesellschaft. Ohnehin war das Land geographisch ein Teil Südosteuropas und im engeren Sinne des Balkans, der ungefähr fünf Jahrhunderte (15. Jh. – Anfang des 20. Jhs.) unter osmanischer Herrschaft stand und vom Westen demzufolge in vielfältiger Weise getrennt war. Trotz des Liebäugelns mit dem Osten und insbesondere mit Russland befand sich das Land stärker in einer langen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Allianz mit und auch Abhängigkeit von dem Westen - es war Mitglied der NATO seit 1952 und der Europäischen Union (damals: Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft) seit 1981. Darüber hinaus war Griechenland nie hinter dem "Eisernen Vorhang" - im Gegensatz zu allen anderen Balkanstaaten. Trotzdem wurde seine historische und kulturelle Idiosynkrasie niemals eine westliche, was zu dauerhaften Spannungen und inneren Dichotomien führte, bisweilen auch mit tragischen Ergebnissen, wie etwa im Rahmen des blutigen Bürgerkrieges (1946–1949) zwischen prowestlichen Regierungsgruppen und kommunistischen Partisanen. Antiwestliche Richtungen blieben also weiterhin stark und blühten unter bestimmten soziopolitischen Kontexten immer wieder auf, wie etwa während der ersten sozialistischen Periode im Lande (1981–1989) oder während der Jugoslawienkriege (1991–1999). Kein Zufall ist, dass der Politologe Samuel Huntington in seiner berüchtigten Theorie vom "Zusammenprall der Kulturen" in den 1990er Jahren Griechenland als einen Außenseiter und als eine Anomalie innerhalb der westlichen Organisationen betrachtete.
Die jüngste Etappe dieser antiwestlichen Orientierung erlebte das Land im Rahmen der radikalen linken Regierung von Syriza (Synaspismos Rizospastikis Aristeras = Koalition der radikalen Linke) zwischen Januar 2015 und Juli 2019, die mit einem antieuropäischen, antiwestlichen und antikapitalistischen Diskurs die von der andauernden Krise enttäuschten und verunsicherten griechischen Wähler überzeugen konnte. Der Sieg der Partei wurde des Öfteren als späte Rechtfertigung und Rehabilitation für die im Bürgerkrieg besiegten Kommunisten erachtet, die bis 1974 massiven Verfolgungen und Diskriminierungen ausgesetzt waren. In der ersten, kurzen Phase dieser populistischen Regierung, entschloss sich Premierminister Alexis Tsipras für eine frontale Kollision mit der Europäischen Union und den internationalen Geldgebern und suchte nach "Zauberlösungen" für die Probleme des Landes. Er musste jedoch sehr schnell auf pragmatische Weise wegen des androhenden Grexits im Juli 2015 diese Strategie aufgeben. Dieser Kompromiss führte zu einer kompletten Reorganisation der Partei in eine sozialdemokratische Richtung, wie etwa durch die Abspaltung mehrerer radikaler linker Gruppen, die den harten antieuropäischen Kurs fortsetzten. In der darauffolgenden Regierungszeit pendelte Syriza immer zwischen linken Prämissen und der völligen Unterwerfung unter den Willen der westlichen Mächte (der EU, der NATO und der USA). Es war daher ironisch, ständig zu beobachten, wie die frühere antieuropäische und antiamerikanische Rhetorik von Syriza während dieser Phase völlig ausgeschaltet worden war und dass Griechenland zum vielleicht verlässlichsten Partner der EU und der USA in der Region geworden war. Tsipras war im Oktober 2017 sogar zu Besuch in Washington beim neugewählten US-Präsidenten Donald Trump und bemühte sich ernst um die besten Beziehungen seines Landes mit der größten und einflussreichsten westlichen Macht heutzutage.
Davon abgesehen versuchte Syriza gleichzeitig, irgendwie ein gewisses "linkes Profil" aufrechtzuerhalten, um der eigenen ideologischen Vergangenheit gerecht zu werden. Tsipras war beispielsweise der einzige EU-Premierminister, der zur offiziellen Trauerfeier von Fidel Castro am 4. Dezember 2016 nach Kuba gereist war und dort eine linksinspirierte, fulminante Rede hielt. Die Syriza-Regierung war zudem ein ständiger Unterstützer des Nicolás Maduro-Regimes von Venezuela und zwar in klarem Widerspruch zur übrigen EU- und US-Politik. All dies führte nicht zuletzt zu krassen und bisweilen lächerlichen Widersprüchen zwischen den Aktionen der Syriza-Partei und denen der Syriza-Regierung. Die erste blieb grundsätzlich antiwestlich, antieuropäisch und antiamerikanisch und protestierte sogar offen gegen den anders gearteten Kurs der Regierung, die eigentlich aus den Reihen dieser Partei zustande kam. So nahm die Syriza-Partei weiterhin regelmäßig an den symbolischen Protestmärschen von linken Bewegungen und Parteien zur US-Botschaft in Athen teil, obwohl die Politik der Syriza-Regierung unmissverständlich proamerikanisch war.
Die Syriza-Partei war ein Wahlbündnis aus kommunistischen, ökosozialistischen, maoistischen, trotzkistischen und anderen verwandten Gruppen, doch die Herkunft der meisten dieser Gruppen war die prosowjetische, marxistisch-leninistische Kommunistische Partei Griechenlands. Diese besteht noch immer unabhängig, trotz des Zusammenbruchs der Sowjetunion und des Ostblocks (1989-1991), und hat eine ständige und signifikante Präsenz im griechischen Parlament (in der Regel zwischen 5 % bis 10 %). Insofern kann Griechenland international ohne Zweifel als eine der letzten Bastionen des Kommunismus erachtet werden. Tsipras selbst, sowie viele Parteimitglieder und Minister der Syriza-Regierung, waren ursprünglich mit der o. g. prosowjetischen Partei eng verbunden und hatten ihre erste politische Sozialisation dort erhalten, die natürlich nachhaltige Spuren hinterließ. Bezeichnend sind dafür die neuerdings aufgetauchten Bilder von Tsipras, als er in Genua 2001 an den gewalttätigen Protesten gegen den G8-Gipfel teilgenommen hatte.
Es ist auch kein Zufall, dass eine der ersten Auslandsreisen von Tsipras als Premierminister im April 2015 in Richtung Moskau ging, auch wenn dort bereits längst nicht die sowjetischen Kommunisten an der Macht waren. In seinen Augen symbolisierte aber Moskau den Gegenpol des kapitalistischen Westens, mit dem der junge und unerfahrene Politiker zu Beginn seiner Regierung radikal brechen wollte - eine Illusion, wie er später öffentlich zugegeben hat. Sehr schnell war er daher zur pragmatischen Besonnenheit gezwungen und leiste keinen wirklichen Widerstand zum Willen der westlichen Mächte mehr, auch wenn er oftmals den Eindruck des Revolutionärs nach innen verkaufen wollte. Unter anderem trug er 2018 zur Lösung des Namenstreits mit der Nachbarrepublik Nordmazedonien bei, was der westlichen Welt insgesamt besonders gefiel und von ihr entsprechend hochgepriesen wurde. Vielleicht spielte Tsipras während seiner Regierung auf exzellente Weise die Rolle des "nützlichen Idioten" zugunsten des Westens und seiner Interessen, was er jedoch niemals akzeptiert hat. Viel wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass die genaue Bestimmung von Ost und West während seiner Regierungszeit stark getrübt wurde. Auch die Tatsache, dass er nur mit Hilfe der populistischen rechtsradikalen Partei Anexartitoi Ellines (Unabhängige Griechen) in Koalition regieren konnte, zeugt deutlich von diesen eklatanten Widersprüchen. Ideologisch war Syriza nämlich mit dieser Partei diametral entgegengesetzt. Die Ost- und West-Kategorien wurden in diesem Zusammenhang stark vermischt und vernebelt, sie wurden arbiträr und eigenwillig neu definiert und entsprechend nach innen und nach außen propagiert und verkauft, wenn auch nicht auf überzeugende Weise. Nach dem 7. Juli 2019 hat Griechenland eine neue konservative, prowestliche Regierung, die das Land auf pragmatische Weise raus aus der Finanzkrise führen und radikal modernisieren will. Auch wenn dies der neuen Regierung gelingen sollte, wird das Ost-West-Dilemma für das Land nicht endgültig vorbei sein. Immerhin hat Syriza bei den letzten Parlamentswahlen 31,53 % der Stimmen erhalten, was die entsprechenden Präferenzen und Orientierungen vieler griechischer Wähler auf eindrucksvolle Weise widerspiegelt.