AHOJ LEIPZIG!
// Anne Javůrková – 27.05.2019
Byl pozdní večer - první máj - večerní máj - byl lásky čas.
Late evening, on the first of May - The twilit May - the time of love.
Karel Hynek Mácha - Máj
Im Rahmen des Kulturjahres 2019 stand auf der Leipziger Buchmesse das diesjährige Gastland Tschechien mit dem Slogan „Ahoj Leipzig“ im Fokus der internationalen Buchkultur, was dieses West-Window zum Anlass nehmen will, zwei tschechische Gäste besonders in den Vordergrund zu rücken: Tomáš G. Masaryk (den der Soziologe Jiří Přibáň in seinem Interview zum Ausgangspunkt nimmt – siehe Bild) und Milan Kundera, dem der Besucher mittels einer großzügigen visuellen Darstellung begegnet.
Das Auftauchen beider scheint jedoch zunächst überraschend … Der eine in allererster Linie Politiker und heutzutage den wenigsten Nicht-Tschechen überhaupt ein Begriff und der andere zwar einer der bekanntesten Schriftsteller tschechischer Herkunft (der dieses Jahr seinen 90. Geburtstag feiert) aber aus der Sicht des Jahres 2019 tatsächlich ein ‘tschechischer Schriftsteller‘?
Doch was heißt es nun, wenn ausgerechnet diese beiden zeitlich, politisch und auch sonst oftmals eher unterschiedlich positionierten Persönlichkeiten als Repräsentanten Tschechiens aufgeführt werden?
Ihr gemeinsamer Nenner ist im kulturellen Rahmenprogramm der tschechischen Ausstellung erkennbar, das allgemein vor allem von einem Wort geprägt ist: Europa. Europa in etwa in dem Sinne, wie es Kundera 1983 in seinem Artikel Un Occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas beschrieben hat:
"Was bedeutet nun tatsächlich Europa für einen Ungarn, einen Tschechen, eine Polen? […] Das Wort „Europa“ bezeichnet für sie kein geographisches Phänomen, sondern einen geistigen Wert, ist ein Synonym für „Okzident“, den „Westen“."
Für eben jenes Europa als „geistigen Wert“ und politische Einheit markieren die Zeitungen (siehe Bild), welche im Rahmen von Tschechiens Gastauftritt in Leipzig publiziert wurden, beunruhigende Schlagzeilen wie KRISENZEITEN? und AUSNAHMEZUSTAND mit dem Ziel, das Bewusstsein für heute erneut agierende zersetzende Phänomene und Problematiken zu stärken (Přibáň seinerseits führt hierfür den erstarkenden Nationalismus und „irrationale Mächte“ ins Feld). In diesem Bewusstsein, dass es sich hierbei keinesfalls um neuartige Phänomene handelt, worauf Přibáň mittels seiner Einbindung Masaryks hinweist, bietet sich eine mögliche Lesart des Auftauchens von Masaryk und Kundera am Stand der tschechischen Ausstellung.
Somit wird nicht nur eine Brücke zum Diskurs der tschechischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mit Blick auf die Frage nach Tschechien und Europa/Westen? geschlagen, sondern gleichzeitig auch eine interne Perspektive auf Europa markiert, die natürlich nicht ausschließlich, aber sehr klar schon damals bei Masaryk und auch später bei Kundera zu finden ist. Eine Perspektive von „der östlichsten Grenze des Westens“ auf Europa, die aufgrund der eigenen Geschichte und einer damit verbundenen Position als „zerbrechlichster Teil des Westens“, wie es Kundera beschreibt, um die Fragilität der geistigen und politischen Einheit „Europas“ in seiner Position als „Synonym für „Okzident“, den „Westen“ “weiß, welches vor allem in seiner Funktion als Ort der Demokratie und der Freiheit (entgegen Kunderas Prognose) als „verteidigenswerte Größe erfahren wird.“