36° 25′ 15.1″N 116° 48′ 35.6″W
// Nils Plath – 10.09.2019
An verschiedenen Stellen in seinen vereinzelten Schriften nimmt der späte Michel Foucault – derjenige, für den die „Sorge um sich“ zu einem zentralen Punkt seiner mit den Jahren erweiterten Machtanalysen wurde – Bezug auf das, was „westlich“ genannt wird: auf einen Zusammenhang, der aus der Geschichte heraus weiter wirkt und von ihm als solcher betrachtet wird. Alles in allem ging es, so führte Foucault 1983 rückblickend auf seine Untersuchungen zu einer „Geschichte der ‚Sexualität‘“ in „Gebrauch der Lüste und Techniken des Selbst“ aus: darum zu erkennen, wie sich in „den modernen westlichen Gesellschaften“ eine „‚Erfahrung‘ derart konstituiert hatte, dass sich die Individuen als Subjekte einer ‚Sexualität‘ zu erkennen haben, die sehr verschiedenartige Erkenntnisbereiche erschließt, und mit einem System von Regeln verbunden ist, dessen Erzwingungskraft sehr variabel ist.“ (in: Michel Foucault, Dits et Ecrits. Schriften. Vierter Band, Frankfurt/M. 2005, aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek, 659)
In „Die Maschen der Macht“, einem 1976 an der philosophischen Fakultät von Bahia in Brasilien gehaltenen Vortrag, äußerte er sich zu seiner Art der Analyse von Macht und darüber, wie er den Gedanken einer Technologie der Macht“ weiter zu entwickeln gedenke. Die Idee dazu habe sich für ihn vor dem Hintergrund einer Analyse der Machtmechanismen und Machtverfahren zu konkretisieren, verstanden als Techniken und einer Technologie der Macht oder Mächte, die er mit Hilfe von Ansätzen von Karl Marx aus dem zweiten Buch des Kapitals entwickeln möchte: „Wenn ich nun aufnehme, was im zweiten Buch des Kapitals zu finden ist, und alles entferne, was hinsichtlich des Vorrangs des Staatsapparats, der bewahrenden Funktion und des rechtlichen Überbaus hinzugefügt und umgeschrieben worden ist, so möchte ich damit herausfinden, wie man eine Geschichte der Mächte im Westen schreiben kann, und zwar vor allem jener Mächte, die im Bereich der Sexualität wirksam geworden sind.“ (in: Foucault, Dits et Ecrits, ebd., aus dem Französischen von Michael Bischoff, 231) Kontrolle der Macht und insbesondere dasjenige, was (gerade unter den Vorzeichen und als Ausdruck von ‚Sexualität‘) dem Zugriff der Macht entging und nicht von der Macht kontrolliert werden konnte, ist es, was Foucault besonders interessiert. Denn deren Einfriedung sieht er historisch – in dem von ihm seit der Antike als Westen oder westliche Gesellschaften in den Blick Genommenen – als erklärtes Ziel der gegen die Sorge um sich als einer Reflexion individueller Freiheit und der Selbstsorge einer Ethik auch der Sorge um die anderen gerichteten Beherrschungsdenken und Machtausübung (vgl. auch „Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit“): „Ökonomische Prozesse und diverse Mechanismen, die jenseits jeglicher Kontrolle lagen, erforderten daher die Schaffung einer kontinuierlichen, präzisen, gleichsam atomaren Macht, den Übergang von einer lückenhaft globalen zu einer stetigen, atomaren, individualisierenden Macht. Statt einer globalen, auf die Macht Masse zielenden Kontrolle bedurfte es einer Kontrolle jedes Einzelnen in seiner Leiblichkeit und seinem gesamten Tun.“ (232) Erforderlich war es, so interpretiert Foucault das Große und Ganze der von ihm überblickten Quellen, einen Machtmechanismus zu finden, „der Dinge und Menschen bis in kleinste Detail kontrolliert und die Gesellschaft weder belastet noch gar ausraubt, sondern in dieselbe Richtung arbeitet wie der ökonomische Prozess.“ (ebd.)
Von diesen Prozessen – zu denen die Entdeckung des Einzelnen und des dressierbaren Körpers“ gehören, „um die herum sich die politischen Praktiken des Westens veränderten“ und ihn von einer „Biopolitik“ sprechen lassen (235) – sagte Foucault in dem Vortrag, der erst in den Achtzigern publiziert wurde, nachdem auch Foucault wiederholt dem Ruf des Go West!, jenem zeitgenössisch neu und schwul interpretiertem Slogan der amerikanischen Manifest Destiny des 19. Jahrhunderts, in die kalifornische Bay Area gefolgt war (vgl. https://web.archive.org/web/20050320074219/http://home.earthlink.net/~ekerilaz/gowest.html), dass sie uns „die große technologische Veränderung im Westen weitgehend verstehen“ lassen.
Wie nirgendwo sonst lassen sich diese Entwicklungen besser beobachten als in Kalifornien. Wofür schon einer von Foucaults kritische kommentierten Gewährsmännern, Karl Marx, ein Gespür hatte, der zweieinhalb Jahre vor seinem Tod um in einem Brief um weitere Auskünfte aus dem 31. Bundesstaat bat, „weil nirgendwo sonst die Umwälzung durch kapitalistische Zentralisation in der schamlosesten Weise sich vollzogen hat“ (vgl. eine Kommentierung in: Nils Plath: „Container Drivers. Vier Anmerkungen zu einem Bild aus James Bennings California Trilogy“, in: Nils Plath (hg.): AugenBlick. Marburger und Mainzer Hefte zur Medienwissenschaft, Nr. 37, 2005 („Blicke auf Landschaften“), 126–136).
Wie nirgendwo sonst kann man in Kalifornien ebenfalls beobachten, wie sich auch immer wieder Lücken in den Detailkontrolle der Einzelnen und der als Kollektiv Versammelten zeigen können und sich Faltungen in den Oberflächen der repräsentativen Architekturen und Landnahmen ergeben, die als Ausdruck von Macht zu betrachten und lesbar sind.
Ein in Jahr 1970 in die Kinos gekommener Film bildet die Aushandlungen gegenüber dieser so unfasslichen wie in ihrer mehr als nur über Symbole ausgeübten Gewalt äußerst konkreten Macht in einer im gegenwärtigen Heute neuerlich und anders aktueller Weise ab, wenn darin die Counter Culture und Studentenbewegung, Identitäts- und Geschlechterpolitiken, der Mythos des Individuums und die Utopie des Kollektivs mit dem großen (amerikanischen) Thema des Widerstreits zwischen Kultur und Natur zusammengebracht werden: Michelangelos Antonionis Zabriskie Point. Konnte sich die sich seinerzeit von seinen Werken aus den Sechzigern (La notte, (L'eclisse, Il deserto rosso und Blowup) begeisterte Kritik nicht recht mit diesem Film anfreunden, so erscheint er doch heute mehr als nur eine Elegie auf die im Kollektiv ausgelebten utopischen Selbstverwirklichungsträume der Sechziger mit seinem apokalyptischen Finale – jener bildstarken Szene, bei der eine modernistische Villa in die Luft gesprengt wird, was in Wiederholungen aus verschiedenen Perspektiven in Zeitlupe gezeigt wird. Ein Film, der in Los Angeles auf einem College-Campus seinen Ausgangspunkt nimmt, bebildert die Bildung von Gesellschaftskörpern, jener Erfindung des Westlichen, die Gemeinschaft und Begegnungen als Erfahrungen jenes Selbst suchen, das seit dieser Zeit zu einer ideologischen Figur geworden ist. Eines Gesellschaftskörpers, der auch – hier im Westen (oder sogar noch Jenseits des Westens) – Entgrenzungen auf Zeit erleben kann. Wie eben in einen weiteren Höhepunkt, den der Film in einer Liebesszene zwischen den Hauptfiguren des Films vor der beeindruckenden Kulisse der Felsenlandschaft an jenem titelgebenden Zabriskie Point im Death Valley findet, die dann in eine Fiebertraum-artigen Orgien-Szene übergeht, in der sich Dutzende von Paare mehr oder weniger bekleidet im Wüstensand wälzen, unterlegt von Jerry Garcias Gitarrenklängen.
Im Juni 1975, da war der erste Band seiner Sexualität und Wahrheit noch nicht erschienen, besuchte Michel Foucault in Begleitung amerikanischer Freunde das Death Valley. Am Zabriskie Point, jener Stelle, die sich einem vorzeitlichen See verdankt, der vor neun Millionen Jahren entstand, später austrocknete und jene eindrucksvollen Steinformationen hinterließ, suchte Foucault die Überschreitung der von ihm immer wieder analysierten Mechanismen zu einer „Kontrolle jedes Einzelnen in seiner Leiblichkeit und seinem gesamten Tun“ – durch bewusstseinserweiternde Drogen. Einer Biographie zufolge – David Maceys The Lives of Michel Foucault – habe es sich bei diesem LSD-Trip um „the greatest experience of his life“ gehandelt. In einem Interview erzählt Simeon Wade von ihrem gemeinsamen Trip:
We went to Zabriskie Point to see Venus appear. Michael placed speakers all around us, as no one else was there, and we listened to Elisabeth Schwarzkopf sing Richard Strauss’s, Four Last Songs. I saw tears in Foucault’s eyes. We went into one of the hollows and laid on our backs, like James Turrell’s volcano, and watched Venus come forth and the stars come out later. We stayed at Zabriskie Point for about ten hours. Michael also played Charles Ives’s, Three Places in New England, and Stockhausen’s Kontakte, along with some Chopin….
(https://boomcalifornia.com/2017/09/10/michel-foucault-in-death-valley-a-boom-interview-with-simeon-wade; ausführlicher die Schilderungen in seinem posthum erschienenen Buch: Michel Foucault in Death Valley. [A True Story―Wherein the Great French Philosopher Drops Acid in the Valley of Death], 2019. Das Buch, aus dessen Manuskript Olaf Nicolai schon vor einigen Jahren eine eigenwillige Zitatcollage anfertigten konnte (https://www.ideabooks.nl/olaf-nicolai-foucault-in-205-words-from-simeon-wade-s-manuscript-foucault-in-california), erreichte schnell auch die Aufmerksamkeit der deutschsprachigen Feuilletons und Blogs mit ihrem Interesse für große Namen und Erzählerisch-Biographisches in einer von ihnen bedienten Ego-Aufmerksamkeitsökonomie.)
So wurde an einem heißen kalifornischen Sommertag die Hochkultur in die ausgebeutete Natur des Westens getragen. (Ihren Namen verdankt der Aussichtspunkt dem Vizepräsidenten und Geschäftsführer der Pacific Coast Borax Company, die dort im frühen 20. Jahrhundert Borate abbaute.) Und – von der Romantik bis zur frühen elektronischen Avantgarde – in die erweiterten Kanäle eines Selbst eingespeist, das andernorts andere Formen von Selbsttechniken suchte, um ein Sich in seiner Lusterfahrung zum Ausdruck zu bringen. Foucault, der wiederholt darauf bestand, seine Werke seien Teil seiner Biographie, Bestandteile einer Selbstkultur, und der als sein Arbeitsfeld die Geschichte des Denkens benannte (vgl. „Wahrheit, Macht. Selbst“), erlaubt mit dieser selbstauflösenden Standpunktsuche im Westen, dort am Zabriskie Point, weiter danach zu forschen, wie in der von ihm analysierte politische Rationalität wie auch die wissenschaftliche in dem, was durch die Bezeichnung „westliche Gesellschaften“ (vielleicht zu verkürzend) benannt ist, Gegenpositionen auszumachen und zu beziehen sein könnten. Gegenpositionen auch zu einer Verkürzung auf das Anekdotische, von denen die Subjekte (seit) der Moderne weiter bezeugt zu werden scheinen. Eine Toposforschung auch dies, wo die Sonne zig Stunden mit dem Auto hinter den Hügeln im Stillen Ozean verschwinden wird, wie die Spuren im Sand. Bis zu einem weiteren Tag nach neun Millionen Jahren, der noch nicht der letzte gewesen sein, wenn dies (auf Flüssigkristallbildschirmen oder anderen Oberflächen) weiter hier zu lesen ist.
Fotos: Zabriskie Point, 2. April 2018 von 6:26 bis 7:06 Uhr morgens
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