West- und Ost-Utopien in Tallinn
// Sebastian Dorsch – 27.08.2019
Das Photo zeigt das Viru Hotel in Tallinn – ein zur Reflektion über Ost-West-Verhältnisse einladender Ort in einem Land, das aufgrund seiner Lage im Baltikum und seiner Geschichte immer wieder als Zwischenraum zwischen Ost und West (und Nord) beschrieben wurde und wird. Seit ein paar Jahren ist hoffnungsvoll vom „Silicon Valley von Europa“ die Rede, 2017 titelte die Süddeutsche Zeitung bewundernd: „Zukunft ist vor allem Estland“.
Nach der durch den Hitler-Stalin-Pakt vorbereiteten sowjetischen Annexion 1940 bzw. nach der Rückeroberung von 1944 gegen das nationalsozialistische Deutschland war wurde Estland eine sowjetische Teilrepublik. Um die besondere geographische Lage zu nutzen, sollte in der Hauptstadt Tallinn ein Hotel errichtet werden, das „suitable for foreigners“ war. Das Gebäude wurde von estnischen Architekten geplant und von finnischen Firmen gebaut, um den internationalen Standard zu gewährleisten. Mit seiner Höhe von 23 Etagen und als Kontrapunkt zur direkt angrenzenden mittelalterlich-(westlichen?) Innenstadt sollte es ein Aushängeschild sowjetischer Fortschrittlichkeit sein – aber Fortschritt wohin, auf dem Weg zur Verwirklichung der sozialistischen Utopie, dem Auftrag aus der Oktoberrevolution?
Nachdem das Viru 1972 eröffnet wurde, wurde schnell klar für wen und was es dienen sollte. Das Hotel galt als eines der besten der Sowjetunion, den Gästen standen Annehmlichkeiten aller Art zur Verfügung, wohl nur hier gab es westliche Alkoholika, aber: Gezahlt werden sollte mit westlicher Währung, idealerweise mit US-Dollar, deren Besitz den Sowjetbürger*innen verboten war.
Entsprechend kamen vor allem finnische Touristen – Helsinki liegt nur 90 km entfernt –, aber (laut Wikipedia) auch Berühmtheiten wie Schah Mohammad Reza Pahlavi, Neil Armstrong, Elizabeth Taylor und die erste Kosmonautin Walentina Tereschkowa. „Normalen Leuten“, so Zeitgenossen, „blieb das Hotel als westliche Insel im sozialistischen Alltag verschlossen“, es wurde zu einer westlichen Utopie inmitten der Stadt-Gesellschaft: „life inside was virtually unrecognizable to everyday Estonians“. Gleichzeitig wurden Gäste so versorgt, dass sie das Haus möglichst wenig verlassen (mussten) – bzw. umgekehrt: Sie sollten möglichst im Haus, auf der „westlichen Insel“ bleiben und dort ihre Devisen ausgeben.
Was die meisten Gäste nicht wussten war, dass auch diese Ost-West-Trennung in der obersten Etage des Hauses durch eine Überwachungszentrale des sowjetischen Geheimdienstes KGB sichergestellt wurde. Eine große Anzahl an Zimmern war verkabelt und wurde rund um die Uhr ebenso abgehört wie die meisten öffentlichen Räume des Hotels. Insbesondere Auslands-Esten, die auf Heimaturlaub waren, westliche Gäste und ihre Kontakte zu den „Inlands-Esten“ wurden überwacht, deren Informationen ausgewertet: Die „westliche Insel“ wurde von den Sowjetbürger*innen abgeschirmt – welche Utopie galt es zu schützen, die des Westens oder die des Ostens [1]?
Das in der Nähe des Viru Hotels stehende „Vabamu Museum der Besatzungen [im Plural!] und Freiheit [im Singular!]“ gibt auf diese Fragen erfreulich differenzierte Antworten (im Plural!).
[1] Interessanterweise wird dieser Ort, der für viele Menschen viel Leid bedeutete heute als Touristenattraktion angepriesen.