Bild eines Zukunftseuropäers

// Bärbel Frischmann – 27.03.2019

Das Arbeitszimmer von Hermann Hesse

Der Begriff des „Westens“ oder „Westlichen“ hat zum Teil Synonyme in Wörtern wie „Abendland“ oder auch „Europa“, je nach historischer Konstellation und weltanschaulichen Interessen. Mit „Westen“ oder „westlich“ werden dabei kulturelle und geographische Abgrenzungen vorgenommen, z.B. von östlich, orientalisch, asiatisch, oder auch im erweiterten Sinn zwischen modern und traditionell oder modern und rückschrittlich. Die Grenzen der Begriffsbedeutungen verschieben sich dabei ständig. Gehörte die DDR zum „Osten“, sind die heutigen neuen Bundesländer als Teil der BRD eher dem „Westen“ zuzuordnen. Die Abgrenzungen werden dabei sowohl von der West- als auch der Ostseite vorgenommen.

Interessanterweise ist diese Abgrenzung nicht immer konfrontativ, sondern manchmal durchaus auch wohlwollend in dem Sinne, dass kulturelle Vielfalt als ein wertvolles Gut der Menschheitsgeschichte hervorgehoben wird. Eine damit verbundene Aufgeschlossenheit für andere Lebensgewohnheiten und Weltsichten hat es in der Geschichte immer schon gegeben, genauso wie das Gegenteil, die imperialen Strategien der Okkupation, Unterwerfung und zum Teil sogar der Auslöschung anderer Kulturen. Bei allen Abgrenzungen gab es immer auch schon Kooperation und den Austausch von Waren, Wissen und Ideen. Ein großartiges Beispiel hierfür ist das weitgespannte und über Jahrhunderte genutzte Netz der Seidenstraße. Auch im Zuge der christlichen Missionierungsbestrebungen begaben sich Europäer in andere Weltteile, ein Vorgehen, das ebenfalls in sich ambivalent war und ist. Denn einerseits ist es das Anliegen der Missionare, die – ihrer Meinung nach – eine wahre Religion zu verbreiten, andererseits müssen sie sich intensiv mit fremden Kulturen beschäftigen, deren Sprachen lernen und Lebensgewohnheiten teilen.

Ein solch missionarischer Hintergrund kann so auch zu einer tiefen Verbundenheit mit einer anderen Kultur führen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Hermann Hesse. Er stammte aus einer gebildeten, kulturell sehr offenen Missionarsfamilie. Die Eltern lebten etliche Jahre in Indien, kehrten dann aber aufgrund einer schweren Erkrankung des Vaters in die Schweiz zurück, wo Hermann Hesse aufwuchs, umgeben von Gegenständen, Eindrücken und Erzählungen aus einer damals noch sehr fernen und fremden Welt. So entwickelte Hesse eine Liebe für Asien, beschäftigte sich intensiv nicht nur mit Indien, sondern zunehmend auch mit China und der philosophischen Tradition, mit Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus. Diese östlichen Weisheitslehren übten die stärkste Anziehungskraft auf Hesse aus, vor allem das ostasiatische Ideal einer allumfassenden Gesamtharmonie. Der Ferne Osten mit seiner langen Denktradition wurden für Hesse so zu einem Spiegel der westlichen Welt. Der Westen stand ihm für Rationalität, Wissenschaft und Technik, dabei aber Entfremdung und Verlust an seelischer Geborgenheit.

Doch nicht darum ging es Hesse letztlich, die verschiedenen Kulturen gegeneinander auszuspielen, sondern um eine Perspektive der wechselseitigen Wertschätzung und Ergänzung. „Unseren modernen abendländischen Kulturidealen ist das chinesische so entgegengesetzt, daß wir uns freuen sollten auf der anderen Hälfte der Erdkugel einen so fersten und ehrwürdigen Gegenpol zu besitzen. Es wäre töricht, zu wünschen, die ganze Welt möchte mit der Zeit europäisch, oder sie möchte chinesisch kultiviert werden: wir sollten aber vor diesem fremden Geist jene Achtung haben, ohne welche man nichts lernen und in sich aufnehmen kann“.[i] Die Beschäftigung mit anderen Kulturen soll dazu beitragen zu sehen, „daß die Menschheit, sei sie noch so sehr in einander fremde und feindliche Rassen und Kulturen zerspalten, dennoch eine Einheit ist und gemeinsame Möglichkeiten und Ziele hat“[ii].

Hesse nahm alle Publikationen zur Kenntnis, die zum Themenkreis östlichen Denkens und Dichtens erschienen sind und verfasste dazu mehr als dreitausend Rezensionen.[iii] In einer Besprechung zur Biographie Richard Wilhelms, des verdienstvollen Übersetzers z.B. des Daodeking von LaoTse oder der Texte von Dschuang Dsi, würdigte Hesse Wilhelms Engagement für den Dialog zwischen Ost und West und charakterisiert damit auch sein eigenes Anliegen treffend.

Das „Bild eines Zukunftseuropäers“ beinhaltete für Hermann Hesse, entgegen jedem „Rassenhaß“, der sich auch in Asien finde, entgegengegen einem „Fortschritts- und Technik-Enthusiasmus“ und auch entgegen dem „Anspruch des kirchlich-dogmatischen Christentums auf Alleingültigkeit“ die Kluft zwischen den Kulturen zu überwinden und die „notwendige Synthese zwischen asiatischem und abendländischem Wesen nicht nur in Gedanken, sondern auch in Tat und Leben“ zu vollziehen.[iv]

 

[i]  Hermann Hesse: „Vom chinesischen Geist“, in: ders.: China. Weisheit des Ostens, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2009, S. 149.

[ii]  Ebd.

[iii]  Vorwort von Volker Michels, in: ebd., S. 12.

[iv]  Hermann Hesse: „Ein Mittler zwischen China und Europa“, in: ebd., S. 193.