Ausgerichtet
// Nils Plath – 20.03.2019
Bestimmt, die Grundrichtungen. In den Himmel geschaut. Unsere Koordinaten. Orientierungspunkte. Norden, Osten, Süden, Westen. Richtungsbeschreibungen von einem Bezugspunkt zu anderen. In beliebiger und doch bestimmter Reihenfolge. Nicht immer war der Norden da, wo er heute auf Karten verzeichnet wird. Seit mehreren Jahrhunderten – Genaueres scheint nicht auszumachen zu sein, die Geschichtsschreibung der Kartographie versagt hier dankenswerterweise – verzeichnen sie die abendländischen Land- und Seekarten. So orientieren wir uns. Nach oben und unten. In Richtung und Gegenrichtung. An an und für sich unsichtbaren Größen, die Verhältnisse schaffen. An vier Kardinalpunkten, die uns ausrichten.
In einer Stadt – nennen wir sie beim Namen, der ihr 1688 gegeben wurde, als sie nur ein Flecken war: Chicago –, in deren Ordnung der Osten fehlt, die North Side, West Side und South Side in teilweise unklaren Grenzen existieren und das städtische Sein in seinem Wandel wie in keiner europäischen nach Himmelsrichtungen organisieren, kamen Passagen aus Hans Blumenbergs Einleitung zu Galilei Galileos Sidereus Nuncius – den Nachricht von neuen Sternen – in den Sinn, in denen von der Verortung die Rede ist, einer Kulturtechnik, um Perspektivgewinne zu erzielen – und sich dadurch des eigenen Standorts im System zu versichern:
"In Galileis Griff nach dem Teleskop steckt eine Antinomie. Indem er das Unsichtbare sichtbar macht und so der kopernikanischen Überzeugung Evidenz verschaffen zu können glaubt, liefert er sich dem Risiko der Sichtbarkeit als der letzten Instanz der Wahrheit aus; indem er aber das Fernrohr in Dienst nimmt, um solche Sichtbarkeit herzustellen, bricht er zugleich mit dem Sichtbarkeitspostulat der astronomischen Tradition du gibt dem unbezwinglichen Verdacht Raum, daß die technisch je vermittelte Sichtbarkeit, so weit sie auch vorangetrieben werden mag, ein zufälliges, an dem Gegenstand fremde Bedingungen gebundenes Faktum ist. […] Die Optik Galileis ist durch eine ihr innewohnende Logik der Analogie bestimmt. Der Mensch konnte bis zum Anbruch des Zeitalters der Astronautik die Erde als seinen kosmischen Standort nicht von außen, nicht aus der Distanz sehen. Das kopernikanische System war eben wie das ptolemäische eine auf der indirekten Deutung der Phänomene aufgebaute Konstruktion […] Der Weltausschnitt unserer Erfahrung ist zu klein, die Erde zu sehr Winkelperspektive des Universums, als daß wir die Herrschaft des Prinzips der Kreisförmigkeit in den uns vertrauten Bewegungsvorgängen wahrnehmen könnten."
(Hans Blumenberg, „Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit“)
1966 fertigte Stuart Brand, der spätere Herausgeber des Whole Earth Catalogue, Buttons mit einer fordernden Aufschrift an und verkaufte sie auf dem Campus der University of California in Berkeley: “Why haven’t we seen a photograph of the whole Earth yet?” an. (Abb. 1)
Am 10. November 1967 machte der Satellit ATS-3 der NASA die erste Farbaufnahme der Erde. (Abb. 2)
Seitdem können wir uns neu ausgerichtet sehen. Von außen. Und gegenüber einem Außen, das damit verschwunden ist, unsere Kardinalpunkte neu in Beziehung zu setzen versuchen.