Wo ist der Westen? Europa zwischen Raum und Begriff bei Viktor Klemperer
// Sergey Sistiaga – 01.07.2019
Viktor Klemperer bemerkt in seinen erstmals unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkriegs veröffentlichten, zur Hitlerzeit angefertigten Notizen zur Lingua Tertii Imperii (kurz: LTI), also zur Sprache des „Dritten Reiches“, einen Umstand, der das Sprechen über Europa oder den Westen so anfällig für Konfusionen macht: nämlich den Unterschied zwischen räumlicher und geistiger Bedeutung. In der LTI stellt er eine rein räumliche Konnotation des Europabegriffs fest, dem jedes „raumentbundene Ziel“ abgehe:
"So oft der Name Europa während der letzten Jahre in der Presse oder in Reden auftaucht – und je schlechter es um Deutschland steht, um so öfter und um so beschwörender geschieht das –, immer ist dies sein alleiniger Inhalt; Deutschland, die »Ordnungsmacht«, verteidigt die »Festung Europa«."
Doch auch Paul Valérys vom Raum gelöster geistiger und auf der Dreiheit Jerusalem, Athen und Rom beruhender Europabegriff, formuliert 1922 anlässlich einer Rede in Zürich, ist Klemperer noch nicht abstrakt und geistig genug, denn in seiner „rein lateinischen Tönung und ausschließlichen Westrichtung“ sei er „zu eng, um völlig wahr zu sein“, zumal er Russland übersehe. Dorthin, nach „Moskau“, habe sich, seitdem Tolstoi und Dostojewski auf Europa wirkten und der „Marxismus-Leninismus“ eine Verbindung mit „amerikanischer Technik“ einging, so Klemperer, sich an der unvermeidlichen Verortung versuchend, „der Schwerpunkt des geistigen Europäertums […] verlagert…“.
Gerade dort allerdings, meint Klemperer, löse sich der Europabegriff vom Raum, weil sich „jetzt das reinste europäische Denken buchstäblich »an alle«“ richte, es „unter dem Gesichtspunkt Moskaus [...] nur noch die Welt und nicht mehr die Sonderprovinz Europa“ gäbe.
„Europa ist Begriff“, dichtet Klemperer in seinen Notizen an seine jüdischen auf einem Dampfer in die Tropen dem Holocaust entfliehenden Bekannten: „Vor euch liegt es in den Tropen“. Als Begriff ist es prinzipiell überall realisierbar, aber ebenso ist es überall vom Verschwinden in der Barbarei bedroht. Damals wie heute.[1]
Liest man die „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“ der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu Artikel 2, dem Recht auf Leben, dann ist man sich nicht sicher, ob dieses räumliche Europa gleichbedeutend mit dem geistigen ist, denn es öffnet jedem zukünftigen autoritären Regime[2] die Pforten der Barbarei:
Die Bestimmungen des Artikels 2 der Charta entsprechenden Bestimmungen der genannten Artikel der EMRK und des Zusatzprotokolls. Sie haben nach Artikel 52 Absatz 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite. So müssen die in der EMRK enthaltenen ‚Negativdefinitionen‘ auch als Teil der Charta betrachtet werden:
a) a) Artikel 2 Absatz 2 EMRK:
‚Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um
a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen;
b) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern;
c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen‘.
b) b) Artikel 2 des Protokolls Nr. 6 zur EMRK:
‚Ein Staat kann in seinem Recht die Todesstrafe für Taten vorsehen, die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden; diese Strafe darf nur in den Fällen, die im Recht vorgesehen sind, und in Übereinstimmung mit dessen Bestimmungen angewendet werden ...‘.[3]
Europa drückt für Klemperer (gleiches gilt für den Westen oder das Abendland, sofern synonym gedacht) keine rein räumlich zu bestimmende und abzugrenzende Einheit aus. Europa ist nur dann, wenn es die Willkürlichkeit räumlicher Grenzen transzendiert, wenn es im geistigen Sinne als Begriff verstanden wird, der sich dann realisieren lässt, wenn sich ein Gemeinwesen (es mag sich nur um einen Freundeskreis handeln) nach einer universellen Idee konstituiert, der Raum also nicht durch den Raum, sondern durch den Geist bestimmt wird: Europa ist Idee.
Europa ist dort, wo universeller Geist herrscht, doch wo herrscht dieser heute?
[1] Alle Zitate bis zu dieser Stelle stammen aus Viktor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Reclam 2018, genauer dem Kapitel XXIV „Cafe Europa“, S. 180–187.
[2] Die durch europäische Regierungen nicht kritisierte Verfolgung Assanges, der sich v. a. um die Aufdeckung von Kriegsverbrechen verdient gemacht hat, durch die amerikanische, britische, schwedische und auch ecaduorianische Regierung ist ein herausragendes Anzeichen für die Gefahr, in welcher die Pressefreiheit als vierte Gewalt des demokratischen Rechtsstaates schwebt. Dass Regierungen tendenziell nicht immer zur Wahrheit neigen, war gerade der Grund für den Schutz der Pressefreiheit als demokratisches Korrektiv. Deshalb ist die Verfolgung Assanges und Wikileaks als Angriff auf die Grundstruktur der demokratischen Öffentlichkeit zu werten, der damit offenbar autoritäre Züge trägt. Nils Melzer, UN-Sonderbeauftragter für Folter der Vereinten Nationen, wertet den Umgang mit Assange gar als „psychologische Folter“, was einen weiteren Hinweis auf die Vernachlässigung rechtstaatlicher Prinzipien darstellt. Siehe dazu auf der Website der UN: „UN expert says "collective persecution" of Julian Assange must end now“. Erstaunlicherweise wurde sein Bericht, in dem er weitere Rechtsverstöße im Fall Assange zusammenfasst von den bedeutendsten Zeitungen im angelsächsischen Raum zurückgewießen. Inzwischen ist der Bericht auf dem amerikanischen Portal Medium erschienen: Nils Melzer, Demasking the Torture of Julian Assange.
[3] Quelle: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2007:303:0017:0035:DE:PDF