Grenzen des Westens & Corona
// Sebastian Dorsch – 27.03.2020
Die Münchner Sicherheitskonferenz diskutierte vom 14. bis 16. Februar 2020 die internationale Sicherheitslage unter der Überschrift „Westlessness“: Sowohl der Westen selbst als auch der Rest der Welt würde sich zunehmend ent-westlichen. Als westlich deklarierte Werte wie die liberale Demokratie, Menschenrechte, Marktwirtschaft und internationale Zusammenarbeit verlören rund um den Globus Unterstützer*innen, während illiberale Autokraten und Nationalisierer im Westen und Nicht-Westen immer mehr Zuspruch erhalten.
So plausibel die Beschreibung ist, so vielfältig waren die Lösungsvorschläge der vortragenden Staatenlenker*innen: Der kanadische Premier plädierte für mehr Multilateralismus, die deutsche Verteidigungsministerin für mehr gemeinsame Waffen-Produktion, der italienische Außenminister für eine Stärkung Europas, der chinesische Außenminister und ähnlich die slowakische Präsidentin plädierten für eine Überwindung der „East-West divergence“.
Die letzten Plädoyers – interessanterweise von Vertreter*innen des (ehemaligen) Nicht-Westens, wenn sich das so beschreiben lässt – verweisen auf einen Aspekt, den der Westen über Jahrzehnte relativ erfolgreich für sich beanspruchte, nämlich das Grenzen-Ziehen: Grenzen zwischen sich als Erster Welt und der Zweiten (sozialistischen) und Dritten Welt, Grenzen zwischen Zentrum und Peripherie, Grenzen zwischen Fortschritt(lichkeit) und Zurückbleibenden, Grenzen zwischen gut und schlecht/böse und schließlich Grenzen zwischen Westen und Nicht-Westen (Osten, Süden, Osteuropa, Lateinamerika …). Die oben genannten, häufig als universell bezeichneten Ideen unterliegen damit dem Definitionsanspruch des Westens: Was macht bspw. eine gute Marktwirtschaft aus, was eine liberale Demokratie, was den Westen? Dieser Anspruch stößt (zunehmend?) auf immense Realisierungsprobleme. Zu sehen war/ist das beispielsweise auf vielfach sich überlappende Weise beim Versuch Europas (und auch der USA), sich vor (zu vielen) Geflüchteten oder dem Klimawandel zu schützen und sehr aktuell beim Versuch, COVID-19, das sogenannte Corona-Virus auszugrenzen.
Fast reflexartig bezeichnete der US-Präsident die Pandemie als chinesische Krankheit und Europa schloss die Grenzen. Noch Mitte Februar beim Gipfel in München sprach außer dem chinesischen Außenminister und dem Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation WHO niemand über Corona. Letzterer warnte eindringlich vor der globalen Dimension und hob die chinesischen Eindämmungsversuche ausdrücklich hervor „China has bought the world time". Den auf sich konzentrierten Westen interessierte das Thema nicht, Europa hatte erst 47 Fälle, die USA 13, China aber bereits über 70.000 infizierte Menschen und fast 1.800 Tote. Bei einem in München eingerichteten Health Security Roundtable „Managing Dangerous Outbreaks amid Geopolitical Disorder“ sprach man (laut Homepage) „nur“ über Ebola als Gefahr aus dem Süden und über „geopolitische Unordnung“. Nur einen Monat später ist der Westen, hier Europa und zumindest die US-Ost-Küste scheinbar schlecht vorbereitet voll erfasst von Corona. Nun gilt das Virus als ausdrücklich globales Krisenmoment.
Dass Europa die Grenzen für Menschen und auch für dringend benötigte Hilfsgüter nicht nur nach außen schloss (dies ähnlich wie die USA), sondern auch innerhalb Europas, verweist nicht nur auf fehlende internationale und europäische Kooperationsfähigkeit und -willen, sondern auch auf eine lang geübte westliche Technik: Grenzen-Ziehen. Diese Technik stößt nicht nur hier offensichtlich an ihre Grenzen.