Eindrücke von unserer Veranstaltungsreihe
Podiumsdiskussion am 16. Juni 2023
Vietdeutsches Leben in der Diskussion
Etwa 15 Personen waren vergangenen Freitag der Einladung der Oral-History-Forschungsstelle in die Stadtbibliothek Berliner Platz im Erfurter Norden gefolgt und kam dort gegen 17 Uhr zusammen. ‚Vietdeutsches Leben nach dem Mauerfall' – das Thema der Podiumsdiskussion hatte einen Querschnitt der Gesellschaft angesprochen und so versprach bereits die gemischte Zusammensetzung des Publikums von jung bis alt einen interessanten Austausch.
Bei den Gäst:innen, die auf dem Podium Platz nahmen um den Abend inhaltlich zu gestalteten, handelte es sich um Akteur:innen der vietnamesischen Community und Forschende: Neben Dr:in Kimiko Suda von der Freien Universität Berlin und Dr:in Franka Maubach von der FSU-Jena (zurzeit ist sie Gastprofessorin an der Humboldt Universität zu Berlin) durften wir den ehemaligen Vertragsarbeiter und Studenten Nguyễn Tien Duc sowie Nguyễn Hải Nam vom Projekt „Ossi-Ausländer" begrüßen. Während draußen die schwüle Hitze in ein Sommergewitter überging, führten in den Räumen der Bibliothek die Moderatorinnen Dr:in Agnès Arp und Alexandra Petri äußerst kurzweilig durch die zweistündige Veranstaltung.
Die Vielfalt der hierbei besprochenen Themen reichte von vietnamesischem Leben in Ostdeutschland über asiatische (Selbst-) Organisation bis hin zu antiasiatischem Rassismus. Geteilt wurden einerseits sehr persönliche Erinnerungen, die andererseits mit einem wissenschaftlich/forschenden Blickwinkel kommentiert bzw. kontextualisiert wurden.
So berichtete Nguyễn Tien Duc von seinem Ankommen in der DDR in den 1970er Jahren, welche ersten Erfahrungen er mit der DDR-Gesellschaft sammelte, wie er sich peu à peu beruflich und privat einen Platz in der Gesellschaft machte und wie fragil seine Existenz Anfang der 1990er Jahren wurde. Franka Maubach machte darüber hinaus aus einer analytischen Perspektive eindrücklich klar, dass der Rassismus und die Gewalt der Transformationsjahre sich nicht auf die medial besonders präsenten Übergriffe, wie beispielsweise in Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda, „reduzieren" lassen. Vielmehr seien Rassismus und Gewalt – und somit auch ein Gefühl der Angst – konstante und prägende Bestandteile des Alltags von Migrant:innen in dieser Zeit gewesen. Auch Kimiko Suda umrahmte diese Erzählung theoretisch und erläuterte für uns und das Publikum die (antiasiatisch) rassistischen Strukturen in der heutigen Bundesrepublik. Asiatisch gelesene Menschen kämpfen durch Selbstorganisation für ihre Repräsentation. Dabei ging sie auch immer wieder auf persönliche Erlebnisse ein. Dieser rote Faden von persönlichen Erlebnissen zog sich auch noch weiter. Auch Nguyễn Hải Nam verband Persönliches mit Forschungsinteresse. Im Projekt „Ossi-Ausländer" beschäftigte er sich mit Migrant:innen aus der DDR, führte Interviews und versuchte –mit Erfolg- so eindrücklich ihre Geschichte darzustellen und sichtbar zu machen.
Die Öffnung der Diskussionsrunde für Fragen aus dem Publikum ermöglichte schließlich einen fruchtbaren und spannenden Austausch unter allen Anwesenden. So berichtete ein Zuhörer, dass zu DDR-Zeiten in der Schule für das sogenannte vietnamesische Brudervolk Sachspenden gesammelt worden seien. Eine andere Zuhörerin, die selbst vor über 30 Jahren aus Vietnam kam, bestätigte, dass sie, wohl gemerkt, als beste Schülerin ihrer Klasse, solche kleinen Geschenke aus ihrer Kindheit in Vietnam erhielt.
Mit dem Ende der Veranstaltung gegen 19 Uhr musste schließlich auch die Diskussion einen Abschluss finden – jedoch bereits mit dem Ausblick auf den nächsten Programmpunkt der Reihe „Vietnamesisches Leben in Erfurt": Am 29. Juni 2023 von 15-17 Uhr findet ein Online-Vortrag zum Thema `Vietnamesische Communities in Polen' statt, zu dem wir Sie recht herzlich einladen!
Erzählcafé am 02. September 2023
Am 02. September 2023 hat die Oral-History-Forschungsstelle der Universität Erfurt im Rahmen der Veranstaltungsreihe “Vietnamesisches Leben in Erfurt“ zu einem weiteren Erzählcafé eingeladen.
Nach einer ersten Vorstellungsrunde entwickelte sich rasch unter den 15 deutschen und vietnamesischen Teilnehmenden (eine Japanerin nahm auch teil) ein angeregter und wertschätzender Austausch. Das Gespräch moderierte Dr. Agnès Arp. Der Schwerpunkt des Gesprächs lag auf den Erfahrungen, welche Zeitzeugen und Zeitzeuginnen in den 1980er Jahren in den Betrieben der DDR im ehemaligen Bezirk Erfurt gesammelt haben. Die teilnehmenden ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeitenden berichteten davon, wie sehr sie sich damals gefreit hatten, fünf Jahre in die DDR arbeiten zu dürfen, um Geld verdienen zu können und ihr Leben und das Leben ihrer Familien in Vietnam nachhaltig zu verbessern. Sowohl damalige Vertragsarbeitende wie auch ehemalige einheimische Arbeitende erzählten von der beidseitigen Wertschätzung am Arbeitsplatz und dem quasi nichtexistierenden Kontakten zwischen DDR-Bürger:innen und vietnamesischen Vertragsarbeitenden in der Freizeit. Letztere berichteten ebenfalls davon, wie sich die Vertragsarbeitenden gegenseitig unterstützten und motivierten, auch Pausen durchzuarbeiten. Das Ziel, mehr Geld zu verdienen, konnte über das Übertreffen der Normziele erreicht werden. Der Arbeitseifer der vietnamesischen Vertragsarbeitenden sorgte aber bei der deutschen Belegschaft für Unmut, die sich mit immer wieder höheren Normziele konfrontiert sah und diesen Prozess als Lohndumping wahrnahm. In der Folge kam es in den 1980er Jahren auch immer wieder zu Spannungen zwischen vietnamesischen und deutschen Arbeitenden über die Einhaltung der Norm, wobei sie sich laut den Zeitzeugen damals nicht über die Gründe dessen ausgetauscht hätten. Beim Austausch über die Einhaltung der Normziele zeigte sich der Vorteil des Formates Erzählcafé: durch Erzählen und gemeinsames zuhören wurde es möglich, die Perspektive des Anderen zu erfassen und verstehen. Dieses Missverständnis konnte somit über 30 Jahre später in einer konstruktiven Gesprächsatmosphäre aufgeklärt werden.
Übereinstimmend erinnerten sich die Zeitzeug:innen, wie überrascht sie vom Prozess der Deutschen Einheit waren. Sie beschrieben, wie sehr es das Verhältnis zwischen einheimischer Belegschaft und vietnamesischen Vertragsarbeitenden negativ beeinflusste. Denn die vietnamesischen Vertragsarbeitenden wurden nach 1990 von der deutschen Belegschaft zunehmend als Konkurrenz um die knapper werdende Ressource „Arbeitsplatz“ wahrgenommen. Die vietnamesischen Zeitzeug:innen ihrerseits berichteten davon, wie sie quasi über Nacht erst den Arbeitsplatz und damit einhergehend auch ihren Aufenthaltstitel und Wohnraum verloren. Sie standen vor einem existentiellen Dilemma: in einer zunehmend feindseligen Umgebung weiter am Traum für ein besseres Leben zu leben oder nach Vietnam zurückzukehren. Diejenigen, die sich für das Bleiben entschieden, fanden meist keine Anstellung und gründeten ihre eigenen Geschäfte. Anfang der 1990er Jahre eröffneten in Erfurt und Umgebung die ersten vietnamesischen Restaurants und der „Asia Großmarkt“, welche die Stadt bis heute nicht nur kulinarisch bereichern.
In der Abschließenden Fragerunde erweiterte sich das Gespräch bei Kaffee und Kuchen über den Kreis der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen hinaus. Durch jüngere Teilnehmende wurden spannende Fragen über das Alter und die Erfahrungen der damaligen vietnamesischen Vertragsarbeitenden, die im Schnitt 17 -25 Jahre alt waren, oder über kulturellen Differenzen zwischen Nord- und Südvietnamesen, aufgeworfen. Im Anschluss an das Erzählcafé entwickelten sich noch zahlreiche Gespräche zwischen den Teilnehmenden.
Vietnamesisches Leben in Erfurt
Von April bis September 2023 organisiert die Oral-History-Forschungsstelle eine Veranstaltungsreihe zum Thema ‚Vietnamesisches Leben in Erfurt‘.
In diesem Rahmen findet von Vortrag und Lesung über Erzählcafé und Podiumsdiskussion bis hin zu einem Antirassismusworkshop eine Vielzahl an diversen Veranstaltungen statt, zu denen alle Interessierten herzlich eingeladen sind. Einen Überblick über die Veranstaltungen sowie nähere Informationen zu den einzelnen Programmpunkten finden Sie in unserer Rubrik „Aktuelles“.
Die Oral-History-Forschungsstelle hat es sich mit der Veranstaltungsreihe zum Ziel gemacht, gemeinsam mit der vietnamesischen Community der Stadt Erfurt in einen Dialog zwischen bisher marginalisierten Gruppen und der restlichen Stadtgesellschaft zu kommen. Damit will die Oral-History-Forschungsstelle bisher unerzählten (Lebens-) Geschichten einen Raum geben.
Die vietnamesische Community besteht seit mehr als 30 Jahren in Erfurt und ist auch weiterhin stark in der Stadtgesellschaft vertreten. Dennoch sind bis heute die Geschichten von Migration in vielen ostdeutschen Städten und die migrantische Perspektive auf den Mauerfall unterrepräsentiert.
Gefördert wird die Veranstaltungsreihe von dem Forschungsverbund Diktaturerfahrung und Transformation, dem Bundeministerium für Bildung und Forschung, der Sparkassenstiftung Erfurt sowie dem Lokalen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus der Stadt Erfurt (LAP).
Wir bedanken uns außerdem ganz herzlich bei unseren Kooperationspartner:innen, dem Asia Großmarkt Erfurt, der vietnamesischen Gemeinschaft der Stadt Erfurt, dem Ausländerbeirat der Stadt Erfurt, dem Stadtteiltreff Berolina, der Stadtteilbibliothek Berliner Platz, der Initiative „Blinde Flecken“ Erfurt, der Wissenschaftlichen Koordinationsstelle Erfurt und Jena „Koloniales Erbe Thüringen“, der Bauhaus-Universität Weimar, dem Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA) e.V., der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen.