Das Forschungsprojekt analysiert die Kartierung von Staatlichkeit in Westafrika anhand des Quellenbestands der Sammlung Perthes in der Forschungsbibliothek Gotha. Die Kartensammlung, das Verlagsarchiv und die Verlagsbibliothek geben Aufschluss darüber, wie Karten Vorstellungen von westafrikanischer Territorialität und Staatenbildung südlich der Sahara erzeugten, reflektierten, transformierten und verbreiteten.
Das Forschungsprojekt fragt, wie Karten als Artikulationen visueller Argumente zum näheren Verständnis von kolonialen und indigenen Staatsbildungs-, aber auch Staatszerfallsprozessen beitrugen. Außerdem untersucht das Forschungsprojektwie Karten Vorstellungen von westafrikanischer Staatlichkeit visualisierten und wissenschaftlich begründeten und so die Erde als Möglichkeitsraum darstellten.1 Die Analyse der für die Geschichte Afrikas und die Globalgeschichte bisher kaum beforschten Quellen der Sammlung Perthes zu Westafrika befördert das Verständnis der Darstellung von Staatlichkeit in Afrika. Insbesondere erläutert das Vorhaben die Relevanz der Karten europäischer Provenienz, indem es aufzeigt, dass kartographisches und geographisches Wissen auch immer ein politisches Wissen meint.
Auf der ersten Betrachtungsebene wird untersucht, wie das Wissen von Intermediären in Westafrika in das kartographische Wissen einfloss, das der Anfertigung des „Stieler Handatlas“ und der darauf aufbauenden Kartenprodukte des Verlags zugrunde lag. Zum Beispiel vollzog sich in Senegal in diesem Zeitraum die Territorialisierung von Staatlichkeit im Spannungsverhältnis zwischen der Ausdehnung des französischen Kolonialstaats, der Herrschaftsansprüche der Wolof-Könige und dem Einfluss muslimischer Prediger und Befehlshaber. Auf der zweiten Ebene werden Zeit- und Mobilitätskonzepte in Karten und Reiseberichten untersucht. Die Angabe von Marschrouten und Transportwegen verdeutlicht die Überwindung von Raum durch unterschiedliche Vorstellungen von Entfernung. Im Zentrum der Betrachtung stehen hier die Reisen zwischen regional bedeutenden Städten, z. B. von Dakar nach Kayes, Accra nach Kumasi und von Lagos nach Ibadan und Sokoto. Auf der dritten Analyseebene untersucht das Vorhaben Widersprüche, die sich aus einem Vergleich von Karten der ausgewählten Gebiete ergeben. Dieser Schwerpunkt thematisiert daher, wie kolonialstaatliche Akteure Orte, z. B. Berge und Flüsse, „deterritorialisierten“ und dann wieder „reterritorialisierten“.2 Das Verhältnis zwischen bildlichen und textlichen Elementen der Karten spielt bei der Betrachtung eine besondere Rolle, um Widersprüche zwischen verschiedenen Karten zu verdeutlichen. Die dargestellten Konzepte von Staatlichkeit waren Ausdruck der Performativität und Materialität in den Text-Objekt-Bezügen der Karten. Mit der Entwicklung des Perthes Verlags zum nationalsozialistischen Musterbetrieb endet der Betrachtungszeitraum des Forschungsprojekts 1933.
1 Zu diesem Ansatz und dem Thema der Darstellung von Meeren in Karten: Schröder, I., Schürmann, F., Theis, F., u. Weigel, P., „Die Welt im Meer: Globalität in der europäischen Kartographie der Meere des 19. Jahrhunderts“, WERKSTATTGESCHICHTE, 83 (2021), S. 69–83.
2 Schröder, I., „Der deutsche Berg in Afrika: Zur Geographie und Politik des Kilimandscharo im Deutschen Kaiserreich“, Historische Anthropologie, 13:1 (2005), S. 21.
Bild: Bruno Hassenstein, Die Flussgebiete des Binue, Alt-Calabar & Kamerun in Westafrika, Mitteilungen aus Justus Perthes' Geographischer Anstalt (1863), Tafel 6 © Forschungsbibliothek/Sammlung Perthes.