Angelika Künne, M.A.
Projektskizze
Projektskizze
Schmerzen erinnern. Die autobiografischen Schriften Claire Golls
„Die Zeit ist unerzählbar“ schreibt Claire Goll in ihrer 1978 erschienenen autobiografischen Schrift Ich verzeihe keinem. Eine literarische Chronique scandaleuse, und weiter heißt es: „[n]iemand, nicht einmal ich, könnte jetzt noch alle meine Freuden und Schmerzen verstehen. Die Augenblicke, wie sie von mir erlebt wurden, haben nach und nach ihren Gehalt verändert und einen neuen Sinn bekommen, an dem ich nun festhalte."1
Die Dichterin (1890-1977), deren Werk in der Literaturgeschichte bis heute weitgehend als Marginalie neben dem ihres Mannes Yvan Goll erscheint, benennt hier den Kontrast zwischen Erleben und Erinnern, der konstitutiv für das autobiografische Schreiben ist. Erlebtes und während des Schreibprozesses Erinnertes wird zur Folie für die Rekonstruktion und Vermittlung von „Augenblicken“, die in ihrer literarischen Darstellung einen „neuen Sinn“ bekommen und eine spezifische, zwischen geschriebenem Text und historisch-empirischem Text-Außen situierte, Ich-Identität konstruieren. Die qua Text „neu“ geformte „Wahrheit“ kann als lektüreleitende Formulierung für die Darstellungsprinzipien von Golls autobiografischem Schreiben gelesen werden, das sich zwischen referentiell wirksamen Momenten (welche auf das empirische Dasein oder ‚Dagewesensein‘ des dargestellten Subjektes und seiner Erfahrungen verweisen) und seiner auf spezifischen literarischen Strategien beruhenden Verfasstheit bewegt.
In meiner Dissertation sollen Claire Golls in ihren letzten Lebensjahren entstandenen autobiografischen Texte Ich verzeihe keinem. Eine literarische Chronique scandaleuse [1978], Traumtänzerin. Jahre der Jugend [1971] und Der gestohlene Himmel [1962] analysiert werden, deren dominantes verbindendes Erzählelement die Gewalterfahrungen sind, derer Claire Goll in ihrer Kindheit und Jugend ausgesetzt war. Beherrscht von einem bis ins Obsessive gesteigerten Sadismus der Mutter stößt das autobiografische Text-Ich an die Grenzen seines ‚Ich-Seins’, das sich unter den physischen und psychischen Misshandlungen der Mutter aufzulösen scheint und autobiografisch-narrativ (re-)konstruiert wird. Dabei geraten die Texte jedoch nicht zu Dokumenten über die mütterlichen Gewaltexzesse bzw. zu einer retrospektiven, möglicherweise auch therapeutischen Selbstverarbeitung des Erlebten durch die Autorin. Vielmehr wird eine Funktionsweise des autobiografischen Schreibens vorgeführt und praktiziert, die im Spannungsfeld von unmittelbarer historischer Nähe und literarischer Distanznahme im, bzw. durch den Text angesiedelt ist.
Claire Goll verfasst weder Bekenntnisliteratur noch formuliert sie Anklageschriften gegen ihre Mutter. Ihre autobiografischen Texte führen die Konstitution bzw. Konfiguration eines Ichs vor, das sich über eine sehr enggefasste Intertextualitätsrelation, welche sich zwischen den drei autobiografischen Schriften manifestiert und gewissermaßen für das ‚Unerzählbare’ der vergangenen Zeit eintritt, beschreiben lässt. Alle drei Texte sind motivisch durch die Beschreibung von Gewalt- und Missbrauchsmomenten gegen die Protagonistin bestimmt, die jedoch in den Texten verschieden perspektiviert (z.B. durch das jeweils unterschiedliche Alter des Ichs) und dadurch rhetorisch und semantisch variiert werden.
Gegenstand meiner Studie ist die Analyse der genannten Texte mit dem Ziel, die Spezifik von Golls autobiografischem Schreiben herauszuarbeiten. Unter Bezugnahme auf grundlegende autobiografietheoretische Arbeiten (u.a. P. Lejeune: Der autobiographische Pakt, P. de Man: Autobiography as Defacement), die meine Lektüren methodisch begleiten, sowie Fragen nach dem Verhältnis von autobiografischem Text vs. Erinnerung/(erinnertes) Wissen, bzw. Referentialität/Faktizität vs. Fiktionalität soll folgenden Problemstellungen nachgegangen werden:
A Wie lässt sich das Verhältnis von Sprache und Schmerz in den autobiografischen Schriften Golls beschreiben? Welche rhetorischen, narrativen und performativen Verfahren liegen ihm konstitutionell zu Grunde?
B Wie lässt sich die Dimensionalität des ‚autobiografischen Ich‘, das zwischen ‚erzähltem Ich‘ und ‚erzählendem Ich‘ situiert ist, beschreiben?
C Welche Momente von historisch-empirischer Referenz strukturieren Golls Texte, welche sprachlichen Mechanismen liegen diesen zu Grunde und wie wirken diese auf ihr Selbstverständnis als autobiografisches Schreiben zurück? Wo finden sich Anknüpfungspunkte, die die Annahme einer Selbstpositionierung Golls als Autorin in ihren Texten nahelegen bzw. wie lassen sich diese plausibilisieren?
Trotzdem der Schwerpunkt meiner Arbeit auf den autobiografischen Texten Claire Golls liegt, sollen an passender Stelle (d.h. vor allem im Kapitel zur Relationalität von Faktizität und Fiktionalität) auch Bezüge zu ihrem Prosawerk hergestellt werden, weil sich meine Motivation auch darauf gerichtet sieht, Claire Goll als Schriftstellerin im literaturhistorischen Diskurs sichtbar zu machen
1 Claire Goll: Ich verzeihe keinem. Eine literarische Chronique scandaleuse, Berlin: Rütten & Loening 21987 [aus dem Französischen von Ava Belcampo], S. 9.
Wissenschaftlicher Werdegang
Wissenschaftlicher Werdegang
- B.A. – Studium Literaturwissenschaft und Philosophie in Erfurt
- M.A. – Studium Literaturwissenschaft (Schwerpunkt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft) in Erfurt (Thema der M.A.-Arbeit: „Vom ästhetischen Paradigma zur Epochenbezeichnung: Der Begriff der Klassik im Spannungsfeld von künstlerischer Produktivität und literaturhistorischer Funktion in der deutschen Literatur um 1800“)
- Volontariat bei den Ullstein Buchverlagen in Berlin
- seit 2009 Stipendiatin im Forum Texte.Zeichen.Medien
Publikationen
Publikationen
- "Schmerzen erinnern. Erzählte Gewalterfahrungen in den autobiografischen Schriften Claire Golls", in: Performativität autobiographischer Diskurse in den Schriften von Frauen / Performativität autobiographischen Schreibens und die Konstruktion von Gender im autobiografischen Diskurs, Serie InterLit, Verlag Peter Lang (in Vorbereitung, voraussichtliches Erscheinungsdatum: Dezember 2011)
Lehrveranstaltungen
Lehrveranstaltungen
- WS 06/07 Wortgefecht und Sprachlosigkeit. Dialogstrukturen im Werk Heinrich von Kleists
- WS 07/08 Literarische und philosophische Perspektiven der Weimarer Klassik
- WS 08/09 Lyrik des Expressionismus
- WS 08/09 Prosa des Expressionismus
- SoSe 2010 Klassisch. Klassik. Klassizismus - Aspekte eines literaturhistorischen Konzepts
- SoSe 2011 Paradigmen des autobiographischen Schreibens. Beispiel: Claire Goll