Muslimische Kulturen in Europa
Die Präsenz von Muslimen in Europa ist bei Weitem kein neues Phänomen. Bereits im Jahre 710 landeten die ersten Araber und nordafrikanischen Berber auf der Iberischen Halbinsel, auf der sie bis zum Sieg der katholischen Reconquista Ende des 15. Jahrhunderts eine Reihe von Dynastien begründeten und aufrechterhielten. Von Sizilien wurde die muslimische Präsenz Ende des 11. Jahrhunderts verdrängt. In Südosteuropa konnten sich Muslime nahezu sechs Jahrhunderte halten und bilden noch heute in einigen Regionen Mehrheitsgesellschaften. Die muslimischen Kulturen, die unter diesen Bedingungen entstanden, waren für die kulturelle Entwicklung Europas von nicht unwichtiger Bedeutung.
Soziale und politische Reformbemühungen in islamischen Staaten im 19. Jahrhundert veranlassten deren Herrscher, Studenten zur Ausbildung in europäische Länder zu schicken. So kam beispielsweise im Jahre 1853 die erste ägyptische Studentenmission nach Berlin; 1915 wurde in Wünsdorf bei Berlin die erste Moschee in Deutschland eröffnet und seit dieser Zeit lebten ständig Muslime in europäischen Großstädten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt die Situation durch die Gastarbeitermigration eine neue Qualität. Heute sind Muslime ein fester Bestandteil europäischer Gesellschaften; sie leisten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu deren wirtschaftlichem und sozialem Wohlstand.
In der Forschung wurde die Präsenz der Muslime in europäischen Gesellschaften bisher durch den Begriff der "Diaspora" beschrieben, selbst wenn sich in Osteuropa zahlreiche alteingesessene Muslime befinden und sich ein Großteil der muslimischen Arbeitsmigranten dazu entschlossen hat, in (West-)Europa zu bleiben. Folglich liegt der analytische Blick nahezu ausschließlich auf dem Spannungsverhältnis zwischen Muslimen und ihren jeweiligen Aufnahmegesellschaften. Dieses Verhältnis kann jedoch nur richtig verstanden werden, wenn es von verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird. Dazu gehört sowohl der innereuropäische Vergleich der Situation von Muslimen in West- und Osteuropa als auch eine Gegenüberstellung der neu entstandenen muslimischen Gesellschaften in Europa mit den Gesellschaften der muslimischen "Altländer".
Bei einem multiperspektivischen Zugang liegt der Schwerpunkt auf folgenden Aspekten:
* die Bildung eigener institutioneller Strukturen, z.B. im Bereich der religiösen Erziehung, der Ausbildung religiöser Funktionsträger oder der Missionsarbeit;
* die Gestaltung dialogischer Kompetenz und die Überwindung integrationspolitischer Defizite;
* die Beziehungen muslimischer Minderheiten in Europa mit ihren Herkunftsgesellschaften;
* muslimische Identitätskonstruktionen und Validitätsdiskurse, auch mit Blick auf die Zunahme genuin europäischer Muslime (Konvertiten und in Europa geborene Muslime, ob mit oder ohne Migrationshintergrund).
Auf dem Hintergrund der aktuellen politischen Gemengelage und auch demographischen Entwicklungen sind diese Fragestellungen von höchster Brisanz.
Letzte Änderung: 6.02.2014