Spätestens mit Beginn der Arbeitsmigration in den sechziger Jahren wurde die deutsche Gesellschaft kulturell, ethnisch und religiös zunehmend pluraler. Heute leben mehr als 3,5 Millionen Muslime in Deutschland. In Interviewstudien und öffentlichen Statements beschreiben sie ihren Lebensalltag als geprägt von sozialem Misstrauen und Ablehnung. International vergleichende Studien belegen den Zuwachs islamophober Einstellungen und diskriminierender Übergriffe auf Muslime und Moscheen in westlichen Gesellschaften. Und auch in den Medien wird das Bild des Islams von Konfliktthemen und Negativ-Ereignissen dominiert – das Produkt eines publizistischen Interpretationsrahmens, der sich bereits vor den Terrorangriffen des 11. September etabliert hatte.
All diese Arbeiten zeichnen ein alarmierendes Bild des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Muslimen und Nicht-Muslimen, das sich nicht zuletzt durch den Erfolg rechtspopulistischer Thesen wie denen Thilo Sarrazins zu bestätigen scheint. Den meisten dieser Studien ist dabei gemein, dass sie zugunsten verallgemeinerbarer Aussagen auf die Erhebung individueller Interpretations- und Sinnzusammenhänge verzichten müssen. Auch ist es kaum möglich, die sozialräumlichen und milieuspezifischen Einflüsse auf die Lebenswelten und Wahrnehmungsweisen der Befragten zu eruieren. Wie gestalten sich jedoch alltägliche Begegnungen (ob in Form von Medienberichten oder durch Primärerfahrungen im Berufs- und Privatleben) zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Gesellschaftsmitgliedern und welche Bezugs- und Bewertungssysteme werden für die Wahrnehmung „des Anderen“ relevant? Welche Rolle spielt die sichtbare Existenz muslimischer Bürger im urbanen Heimatkontext? Und wie lässt sich die individuell gefühlte und gelebte kulturelle Nähe bzw. Distanz der Befragten zu Muslimen beschreiben? An diesen Fragen möchte das vorgestellte Dissertationsprojekt anknüpfen, indem nach den individuellen Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen nicht-muslimischer deutscher und US-amerikanischer Bürger gefragt werden soll. Im Zentrum der Studie stehen mithin alltagsdiskursive Erklärungs-zusammenhänge hinsichtlich des (erlebten) Zusammenlebens von Muslimen und Nicht-Muslimen sowie die Selbstverortung der Befragten vor dem Hintergrund gesellschaftlich konstituierter und historisch gewachsener liberaler Werte- und Normsysteme. Eine international vergleichende Perspektive bietet sich an, da neben grundlegenden Gemeinsamkeiten Deutschlands und den USA (beide sind „westliche“ Industrienationen, überwiegend christlich geprägt) eine Reihe von Unterschieden (Migrationsgeschichte, gesellschaftliches Wertegefüge, Beteiligung an Kriegen gegen vornehmlich muslimische Nationen) bestehen, die für unterschiedliche national geprägte Lebensumwelten sorgen. Mittels Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen werden Probanden verschiedener sozialer Milieus, insbesondere jedoch solche mit höherem und hohem kulturellen und ökonomischen Kapital zu ihren Einstellungen befragt.
Den theoretischen Rahmen dieser Arbeit bilden neben sozialpsychologischen und diskurs-theoretischen Ansätzen zur Konstitution von Identität, Gruppenzugehörigkeit und Fremdheit vor allem Bourdieus Überlegungen zum Habitus. Verstanden als ein in individuelle Praxen eingelassenes Repertoire an Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungsregeln sichert der Habitus einerseits die Stabilisierung und Reproduktion diskursiver wie gesellschaftlicher Lebenszusammenhänge sowie den Erhalt sozialer Positionen. Anderseits verbirgt sich in ihm ein „schöpferisches“ und „kreatives“ Potential, das dem Einzelnen einen Denk- und Handlungsspielraum innerhalb alltagsweltlicher Kommunikations- uns Interaktionssituationen zugesteht. Ausgehend von der Annahme, dass sich Identität dialogisch konstituiert und sozialer Sinn auf der Markierung von Differenzen beruht, lässt sich fragen, welche Funktion die Wahrnehmungs- und Bewertungsdispositionen der Befragten hinsichtlich der Bildung eines individuellen Selbstverständnisses sowie hinsichtlich ihrer sozialen Orientierung und Statussicherung einnimmt.
Erstgutachter: Prof. Dr. Kai Hafez (Universität Erfurt)