| Seminar für Literaturwissenschaft

Literatur zum Erleben

Die Exkursion nach Zürich und Wädenswil vom 16. – 19. Juli 2024

im Rahmen des Seminars von Thomas Glaser: „Biographische Fiktionen um 1900. Robert Walser und Rainer Maria Rilke“

 

25 Erfurter Studierende und ihr Dozent fuhren nach Wädenswil, um dort jene „Villa Abendstern“ zu besichtigen, der Ort fast der gesamten Handlung von Robert Walsers Roman "Der Gehülfe" ist, einem Roman, den der Autor selbst als „Wirklichkeitsroman“ bezeichnet hatte.

Blick über den Züricher See
Blick auf den Züricher See

Warum die Exkursion? Um ein „Dichtermuseum“ zu besuchen, Devotionalien eines Schriftstellers zu bestaunen? Definitiv: nein!

25 Erfurter Studierende und ihr Dozent fuhren nach Wädenswil, um dort jene „Villa Abendstern“ zu besichtigen, die Ort fast der gesamten Handlung von Robert Walsers Roman Der Gehülfe ist, einem Roman, den der Autor selbst als „Wirklichkeitsroman“ bezeichnet hatte, zu dem er „fast nichts zu erfinden brauchte (…)“. Denn in ihm geht es um die Buchhalterstelle, die Walser von Juli 1903 bis Januar 1904 in Wädenswil bei dem Ingenieur Carl Dubler bekleidete, und diese sei ungefährt so verlaufen, wie er sie 1907 „in Berlin nach der Erinnerung geschrieben habe.“ Der Roman war zusammen mit Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und kürzeren Texten Walsers und Rilkes Gegenstand unseres Seminars.

Die wirkliche Villa Abendstern in Wädenswil bei Zürich, in der Walser bei der Familie Dubler lebte und arbeitete ist auch Ort der Romanhandlung. Und als solcher wird sie zum Raum (nach de Certeau), das heißt zu jenem dynamischen System, das sich in den Handlungen der Romanfiguren darstellt: in ihren Bewegung in Haus und Garten, zwischen Innen und Außen, Oben und Unten, in Zimmern diverser Bestimmungen (Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Büro…) und dazwischen (Treppen, Flure), in ihrer Kommunikation an Orten oder über sie hinweg, in ihrem Aufsuchen oder Verlassen von Orten, an die sie gebunden sind (Martis Turmzimmer, Büro) etc. Und so lässt sich an der heute noch bestehenden Villa Abendstern ersehen, wie sie im Roman als Raum narrativ aktiv ist: Ihre horizontalen und vertikalen Strukturen, ihre spezifisch definierten Zimmer, Flure, Treppen, ihre Türen und Fenster, ihre Wände und Böden, ihre Möbel, Tapeten, Verzierungen etc. erzählen in den Handlungen, die die Romanfiguren mit ihnen und an ihnen vollziehen, die Geschichte des „Gehülfen“ Josef Marti und seiner so überaus komplexen Beziehungen zu seinem „Prinzipal“ Karl Tobler und dessen Familie, seiner Frau, den vier Kindern und dem Hund Leo.

Dass es diese im Roman detailliert geschilderte „Villa Abendstern“ heute noch gibt, dass wir sie nicht nur besichtigen, sondern wie die Romanfiguren – sie begehend, abschreitend, treppauf und treppab steigend, in ihr verweilend – selbst in die Romanhandlung eintauchen und den Raum des Romans nachvollziehen konnten, ist allein dem renommierten Robert-Walser-Forscher Bernhard Echte zu verdanken, dessen (auch finanzielles) Engagement die Villa vor dem Abbruch gerettet und sie vor ihrem Abrutschen an dem Steilufer zum Zürichsee gesichert hat.

Bernhard Echte, dessen Arbeit als Literaturwissenschaftler und Editor auch anderen Autoren gewidmet ist und der als Inhaber des Nimbus-Verlags hochwertige Bücher zu Kunst, zeitgenössischer Fotografie und Literatur im Programm hat, führte uns nicht nur durch die Villa, sondern auch durch Wädenswil, das „Bärenswil“ des Romans. Seine Ausführungen vor und in der Villa brachten für unsere Diskussionen hoch instruktive neue Aspekte und fügten sich bestens in unser Seminarthema ein, sofern die von ihm erläuterten Korrespondenzen wie Differenzen zwischen den realen und fiktiven räumlichen Elementen Auskunft über Schreibstrategien Walsers geben konnten. Die Problematisierung des Begriffs der „Autofiktion“ (die durch den Begriff der „Biographischen Fiktion“ im Titel des Seminars angedeutet ist), konnte so eine weitere Zuspitzung erfahren.

Untergebracht waren wir in dem Nachbarort von Wädenswil, in der schönen Jugendherberge in Richterswil mit großem Privatstrand am Zürichsee. Und so konnten wir einen weiteren Aspekt der Problematisierung von „Autofiktion“ ganz praktisch nachvollziehen, indem wir uns an Josef Marti hielten, der nach seinem gescheiterten Tagebucheintrag sich sagte:

„…was ist das für eine Art und Weise, mich hier mit meiner eigenen, werten Person zu befassen, ich gehe lieber baden.“

Denn genau das haben wir auch getan, gleich nach unserer Ankunft sowie am nächsten Tag nach dem anstrengenden Rückweg von der Villa Abendstern am Seeufer entlang (die einen) bzw. über den Berg (die anderen) und den gleichermaßen anstrengenden wie spontanen Dreharbeiten an einer Neuverfilmung von Der Gehülfe am Ort des Geschehens. An den Abenden veranstalteten wir Poetry Talks am Seeufer und ließen uns von der allmählich über die Ufer des Zürichsees sich legenden Nacht sanft umhüllen. Und mit dem Mond über dem Südufer und den Sternen über uns mussten wir dann wieder an Walsers Gedicht „Im Bureau“ denken und an diese rätselhaften Verse „Der Mond ist die Wunde der Nacht, Blutstropfen sind alle Sterne“. Seit unserer Lektüre seines „Seestücks“ wissen wir zwar, was etwa damit gemeint sein könnte, doch an solchen Abenden wirkt diese Metaphorik doch ziemlich schräg – fand ja auch schon Viktor Widmann, der als Erster ein paar von Walsers Gedichten veröffentlichte (1898).

Da unser Zug nach Erfurt am Donnerstag erst 19:59 Uhr von Zürich Hbf abfahren sollte, hatten wir in Zürich noch genügend Zeit für einen Gang durch die Altstadt, durch die Spiegelgasse (wo zeitweise Robert Walser lebte, Lavater, Büchner, Lenin und wo im Cabaret Voltaire der Dadaismus „erfunden“ wurde), für einen Besuch des Kunsthauses Zürich und vor allem des Literaturhauses. Dort zeigte uns Mirjam Schreiber nicht nur von Tucholski, Wladimir Iljitsch Uljanov (= Lenin) u.a. ausgefüllte Mitgliedskärtchen der dort beheimateten Bibliothek der Museumsgesellschaft, sondern auch den Vorabdruck eines Kapitels aus Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurdis Brigge in einer literarischen Zeitschrift von 1909, aus dem wir schließen durften, dass der Herr Rilke sich offentlichtlich nicht gescheut hat, gerade das reißerischste Kapitel mit der Gespenstererscheinung für den Vorabdruck auszuwählen.

Und nicht um 19.59 Uhr, sondern mit ca. 50 minütiger Verspätung der ihrer Selbstwahrnehmung nach superpünktlichen Schweizer Bahn fuhren wir durch nächtliche schweizerische, badische, hessische und thüringische Landschaften nach Hause – nach Erfurt.

 

Wir danken sehr herzlich Bernhard Echte für seine Gastfreundschaft und seine Vorträge über Wädenswil, die Villa und die Entzifferung von Walsers Mikrogrammen, Frau Leisibach vom Nimbus-Verlag für die Betreuung im Verlagsgebäude sowie Mirjam Schneider vom Literaturhaus Zürich für Vortrag und Führung zur Museumsgesellschaft Zürich.

Dem Internationalen Büro der Uni Erfurt danken wir für die finanzielle Unterstützung und Sarah Althaus vom Sekretariat der NdL der Uni Erfurt für ihren organisatorischen Einsatz, ohne den die Exkursion kaum hätte zustande kommen können.

 

Thomas Glaser

 

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