Neues Sehen & Neue Typographie
In den 1920er Jahren war die sprachliche Figur des „Neuen“ weit verbreitet – das Adjektiv markierte den Aufbruch nach dem Ende des verlorenen Krieges, um eine vermeintlich radikale Zäsur auf vielen gesellschaftlichen Gebieten zu kennzeichnen (z. B. „Neues Bauen, neues Wohnen“, die „neue Frau“). Seine Verwendung suggerierte Fortschrittlichkeit und Modernität, und geradezu programmatisch dominierte es die Titel neugegründeter Zeitschriften (das neue frankfurt/die neue stadt, Neue Jugend, die neue zeit, Neue Revue, die neue linie etc.). Das „Neue Sehen“ ist dabei untrennbar mit zwei weiteren „neuen“ Tendenzen der modernen Kultur verknüpft: Zum einen mit der „Neuen Typografie“, die die Fotografie von Anbeginn als wesentliches Gestaltungselement auffasste; und zum anderen mit der „Neuen Sachlichkeit“, die sich (in Abkehr vom Expressionismus) der Welt mit einem nüchternen Blick zuwandte.
Gerade die Bezüge zwischen dem „Neue Sehen“ und der „Neuen Typografie“ scheinen offenkundig: Ebenso wie die Bildsprache der jungen Fotografen nach einer innovativen Form verlangte, um das Material auf der Seite zu organisieren, konnten das moderne Layout nur schlecht auf Lichtbilder in der traditionellen Ästhetik zurückgreifen. Zum typographischen Standard avancierte die von Paul Renner entwickelte, neusachliche Schrift „Futura“, deren schlanker serifenloser Lauf wie geschaffen schien für die Verwendung in der zeittypischen Kombination Foto und Layout. In diesem Sinne kann das Begriffspaar „Neues Sehen“/„Neuen Typografie“, das übrigens auch am Bauhaus konsequent verfolgt wurde, durchaus als Kernkonzept der hier vorgestellten Auffassung von mediengestalterischer Avantgarde aufgefasst werden, die wiederum einen prägenden Einfluss auf die visuelle Kommunikation der Zwischenkriegszeit ausübte.
Der diesem Begriffspaar zugeordnete Archivbestand erscheint wie geschaffen für die Aufarbeitung in Form von Ausstellungen, und so kann kaum verwundern, dass nahezu alle aus dem Archiv heraus oder in Kooperation mit diesem konzipierten Präsentationen diesem Bereich entstammen. Gleichzeitig handelt es sich um einen Kernbereich der Sammlung, der nach wie vor durch gezielte Zukäufe erweitert und vervollständigt wird.
Neues Sehen
Als Ausgangspunkt des „Neuen Sehens“, dem inzwischen auch international etablierten Begriff („A New Vision“; „La Nouvelle Vision“) für die avantgardistische Richtung der Fotografie, wird übereinstimmend Deutschland aufgefasst: Hier war mit dem Bauhaus-Buch „Malerei, Photographie, Film“ (1925) das nach einhelliger Meinung erste Schlüsselwerk der Bewegung erschienen; hier lebten die durchaus unterschiedlichen Exponenten und Pioniere der Bewegung, allen voran László Moholy-Nagy und Albert Renger-Patzsch; hier publizierte die illustrierte Zeitschriftenpresse jene Medien, die zu ihrer Verbreitung beitragen konnten. Gewöhnlich wird aber 1929 als das Schlüsseljahr identifiziert, in der Prozess des so genannten „Neuen Sehens“ kulminierte: Ereignisse wie die Wanderausstellungen „Fotografie der Gegenwart“ bzw. „Film und Foto“ (FiFo) oder deren Begleitbücher „Es kommt der neue Fotograf“ (Gräff) und „Foto-Auge“ (Roh/Tschichold) regten auch die Bildredakteure zur Berichterstattung über und im neuen Visualisierungsstil an.
Neben der Bildenden Kunst, der Literatur und dem Film war auch die Fotografie mit ihrem vermeintlich unbestechlichen, „objektiven“ Blick durch das Objektiv prädestiniert für einen neusachlichen Stil, der dem Leben in den Metropolen so angemessen schien und sich gleichzeitig auch in Phänomenen wie dem Avantgarde-Film (z. B. Ruttmanns „Berlin – die Sinfonie der Großstadt“), dem zeitgenössischen Theater (z. B. in den Inszenierungen der Piscatorbühne) und der Literatur (z. B. Döblins Montage „Berlin Alexanderplatz“) niederschlug.
Die speziellen Charakteristika der Bildwerke, die im Kontext des so beschriebenen Phänomens entstanden, werden in der Literatur meist eher inhaltlich umrissen als präzise definiert. Schon Zeitgenossen hatten versucht, dem Wesen des „Neuen Sehens“ anhand einer ganzen Reihe von Kriterien auf die Spur zu kommen: Genannt werden beispielsweise ungewohnte Perspektiven und Bildausschnitte, schräge Linien, starke Kontraste, Positiv-Negativ-Umkehrungen, optische Verzerrungen sowie das Fotogramm, die Solarisation, das Typofoto und die Fotomontage bzw. „Fotoplastik“ als neue Techniken. Das Motivrepertoire reicht dabei von „Dokumenten des Lebens, seinen positiven wie abgründigen Seiten“ bis hin zu den neusachlich-abstrakten Formen der experimentellen Fotografie.
Aufsatz: Wie das Neue Sehen in die Illustrierten kam. „Maxl Knips“, Sasha Stone, ‚Das illustrierte Blatt‘ und die Bildermagazine der Weimarer Republik. In: Fotogeschichte (31) 2011, Nr. 121, S. 45-60.
Der abschließende Beitrag von Patrick Rössler verlässt die Bildwelt des 19. Jahrhunderts und beschäftigt sich mit der Entstehungsgeschichte des Neuen Sehens in den 1920er Jahren. Der Autor stellt einige scheinbare Gewissheiten der bisherigen Forschung in Frage. Er kann durch umfassende empirische Recherchen zeigen, dass die illustrierte Massenpublizistik (und insbesondere eine bisher kaum analysierte Frankfurter Zeitschrift, Das illustrierte Blatt) eine weit größere Rolle in der Durchsetzung der modernen Fotografie spielte als bisher angenommen.
Neues Sehen als Teil der Fotografie
Bildatlas mit Ausstellungskatalog "Es kommt ... die neue Frau!" (2019)
Ausstellung "Bildfabriken" (2017/18)
Neue Typographie / Reklame
Das Erscheinungsbild der europäischen Gebrauchsgraphik wandelte sich in den 1920er Jahren fundamental: Verspielte Ornamente wurden vielfach von sachlich-nüchternen Gestaltungen abgelöst. Was unter den Begriffen der ‚Neuen’ oder ‚Elementaren’ Typographie firmierte, wurde später durch die Integration fotografischer Elemente und Fotomontagen angereichert. Das Ziel der „Hygiene des Optischen, das Gesunde des Gesehenen“ (Moholy-Nagy, 1924) kann aus heutiger Sicht nur als eine revolutionäre Bewegung verstanden werden, die im Zuge eines ‚Iconic Turn’ radikal mit etablierten Lese- und Sehgewohnheiten brach. Diese Veränderungen lassen sich in verschiedenen gebrauchsgraphischen Feldern nachweisen, so etwa in der Gestaltung von Zeitschriften oder Büchern (und insbesondere von deren Schutzumschlägen) der Zwischenkriegszeit, aber auch in der Reklame und Gelegenheitsdrucksachen wie Broschüren oder Plakaten.
Analysen belegen, dass die Kennzeichen der ‚Neuen Typografie’ als Indikatoren für Modernität und Avantgarde dienten; zumindest jedoch versprachen sie einen gewissen Neuigkeitswert der Inhalte. Ihre Gestaltungsprinzipien waren zunächst mit einer fortschrittlichen, links-revolutionären politischen Gesinnung assoziiert, was in Wechselwirkung mit ihrer Verwendung stand. Im Zeitverlauf setzte sich aber die ästhetische Dimension der ‚Neuen Typographie’ durch, aus funktionaler Sicht erfolgte eine Aneignung des Repertoires unabhängig von der politischen Orientierung.
Der Sammlungsbestand zur ‚Neuen Typographie‘ ergibt sich zum einen als Schnittmenge aus den Archivalien zur Illustriertenpublizistik, zum Bauhaus, zu Herbert Bayer und zum ‚Neuen Sehen‘. Andererseits wurden eine Reihe von Teilkollektionen angelegt, die sich mit der zeitgenössischen Werbegrafik befassen (u.a. mit herausragenden Einzelwerken wie dem „Vogelparadies“ von C. E. Hinkefuss, der Deffke-Sondernummer von „Seidels Reklame“, Schawinskys Prospekt zu den „Hafenanlagen der Stadt Magdeburg“ oder Tschicholds Sonderheft „Elementare Typographie“) und auch die zeitgenössische Fachpresse (z.B. die Zeitschriften „Das Plakat“, Gebrauchsgraphik“, „Typographische Mitteilungen“ oder „Typographische Monatsblätter“) umfassen. Buchgestaltungen von John Heartfield, Prospekte und Umschläge von Herbert Matter, sowie Beispiele für die russische, tschechische oder holländische Avantgarde in der Typographie runden den Bestand ab.
Austellung "Das Bauhaus wirbt" (2019)
Begleitkatalog "Neue Typografien" (2018)
Ausstellung "Bildfabriken" (2017/18)
Begleitkatalog "Bildfabriken" (2017)
Bestandsübersicht "bauhaus.typografie / bauhaus.typography" (2017)
Herbert Bayer
Zunächst als Student, später als Jungmeister am Bauhaus in Weimar und Dessau prägte der Maler und Gebrauchsgrafiker Herbert Bayer wesentlich das Erscheinungsbild der Kunstschule in ihren Schriften und Drucksachen. Als Vertreter eine konstruktiv geprägten, ‚elementaren‘ Typografie zeichnete er, als Leiter der Druck- und Reklamewerkstatt, für die Gestaltung von Büchern, Zeitschriften und Broschüren verantwortlich. Auch nach 1928, seinem freiwilligen Ausscheiden aus dem Lehrkörper des Dessauer Bauhauses, verfolgte er konsequent die dort von ihm maßgeblich entwickelten Prinzipien eines modernen Reklamedesigns im Sinne der „Neuen Typografie“ weiter. In der für ihn charakteristischen Bild- und Formensprache, die Fotografie, Collage und Airbrush-Illustrationen mit klassischen Illustrationstechniken verband, gestaltete er Hunderte Plakate, Umschläge, Prospekte, Anzeigen und Handzettel. Mit Herbert Bayers Auswanderung im Spätsommer 1938 verließ der seinerzeit kreativste Gebrauchsgrafiker Deutschland in Richtung USA. Als „Star“ unter den Werbedesignern war es dem Leiter des dorland-Studios Berlin gelungen, sein künstlerisches Programm national und international zu etablieren. Was in seiner Zeit als Gelegenheitsgrafik galt, sind aus heutiger Sicht Beiträge zum künstlerischen Grafik-Design, die ihrer Zeit um Dekaden voraus waren.
Bayers Auftraggeber rekrutierten sich aus der Konsumgüterindustrie und dem Verlagswesen, aber ebenso aus staatlichen Stellen und staatsnahem Einrichtungen. Dass dabei Kompromisse mit den NS-Machthabern unvermeidlich waren, verdeutlichen verschiedene Entwürfe etwa im Kontext der Großausstellungen „Das Wunder des Lebens“ und „Deutsches Volk, deutsche Arbeit“, die aus heutiger Sicht zweifellos als Propaganda für die Ziele des Regimes zu deuten wären. Nach seiner Emigration arbeitete er weiterhin als erfolgreicher Art Director in den USA und trug durch seine Mitwirkung an den Bauhaus-Ausstellungen 1938 (MoMA) und 1968 (Wanderausstellung IfA) prägend zur Bauhaus-Rezeption bei.
Der Sammlungsbestand zu Herbert Bayer konzentriert sich auf diese gebrauchsgrafischen Arbeiten und berücksichtigt nicht das malerische, architektonische oder skulpturale Werk des Allround-Künstlers. Er umfasst einen größeren Bestand an von Bayer gestalteten Büchern, Zeitschriften (u.a. „die neue linie“) und Prospekten; außerdem eine Auswahl an Fotografien, Briefen und Dokumenten, die aus dem Nachlass des frühen Bayer-Biografen Eckhard Neumann übernommen werden konnten. Dieses Material wurde, gemeinsam mit den Archivalien in den Bayer-Nachlässen in Denver, Linz und Berlin, in einem mehrjährigen Forschungsprojekt aufgearbeitet. Die Ergebnisse mündeten einerseits in zwei Publikationen, eine umfassende Werkübersicht (2013) und eine Bildbiografie (2014). Anderseits ermöglichten sie die Ausstellung „Herbert Bayer und die deutsche Gebrauchsgrafik 1928-1938“, die unter dem Motto „mein reklame-fegefeuer“ – einem Zitat Bayers, das auf die zeitbedingten Kompromisse in seiner künstlerischen Arbeit Bezug nimmt – die wichtigsten gebrauchsgraphischen Arbeiten Bayers jener Epoche präsentierte. Die Ausstellung wurde für die Wechselausstellungshalle des Bauhaus-Archivs Berlin konzipiert und dort vom 20.11.2013 bis zum 24.2.2014 gezeigt; außerdem vom 14.5. bis zum 26.10.2014 in einer modifizierten Variante im Gutenberg-Museum Mainz.
Die Forschung zu Leben und Werk von Herbert Bayer, insbesondere seiner Tätigkeit als Grafik-Designer während der Zwischenkriegszeit, ist seit 2023 in der englischsprachigen Monografie "Herbert Bayer, Grapic Designer" gebündelt.
Ausstellung "Herbert Bayer - Werbegrafik 1928 - 1938" (2013)
Begleitbuch zur Ausstellung mit Werkübersicht (2013)
Jan Tschichold
Der gebürtige Leipziger Ivan (Jan) Tschichold (1902-1974) wurde als einer der Wortführer der Neuen Typographie bekannt. Nach seinem Studium und ersten beruflichen Erfolgen in Leipzig und München zog er in die Schweiz, wo er bis zu seinem Lebensende als Schriftenentwerfer, Autor und Lehrer tätig war. Zwei Projekte widmeten sich der Aufarbeitung von Teilen seines Nachlasses.
Ausstellung "Revolutionäre der Typographie" (2022)
Ausstellung "Jan Tschichold - ein Jahrhunderttypograf" (2019)