Erfurter Anthologie: Ein lyrisches Glaubensbekenntnis

Seit Jahresbeginn 2024 erscheint zweimonatlich ein Gedicht zeitgenössischer Lyriker:innen auf dem Instagram-Kanal der Theologischen Fakultät Erfurt.

Der Titel "lyrisches Glaubensbekenntnis" trägt bewusst eine innere Spannung in sich: Lyrik ist offen, suchend, ein Glaubensbekenntnis scheint fest und definitiv (zumindest im Augenblick des Sprechaktes). Der Ausdruck bezieht sich auf das Gedicht "Credo poético" vom spanischen Lyriker Miguel de Unamuno (1864-1936), verfasst im Jahr 1907:

Es denkt das Gefühl, es fühlt der Gedanke;
gib Nester auf der Erde deinen Liedern,
damit sie, wenn sie auf zum Himmel fliegen,
in den Wolken nicht verschwinden.


Schwere brauchen sie, in den Flügeln Schwere,
die Rauchsäule, sie löst sich auf in Gänze.
etwas anderes als Musik ist Dichtung,
es bleibt nur die gewogene.


Das Gedachte. zweifle nicht. ist das Gefühlte.
Reines Fühlen? Wer an solches glaubt, der hat
von des Fühlens Quelle niemals je erreicht
die lebendig tiefe Ader.


Kiümmere dich nicht allzu sehr um das Gewand,
als Bildhauer, nicht Schneider, sollst du wirken,
und vergiss dies nicht. dass niemals schöner ist
denn als entlößte die Idee.


Nicht wer der Seele Fleischgewand gibt, denke.
nicht wer die Form gibt der Idee ist Dichter,
sondern wer im Fleische die Seele findet,
und findet in der Form Idee.


Durch all das, dürre Dickicht ihrer Formeln
verschleiert tumb die Wissenschaft die Wahrheit;
entblöß sie mit den Händen. deine Augen
genießen dann ihre Schönheit.

Suche Linien im Nackten, denn auch wenn
du uns einhüllst in Ungefähr des Nebels,
hat der Nebel Linien und gestaltet sich;
Augen auf, denn sie vergehen.

Dein Gesang sei klar gestalteter Gesang,
wirf Anker auf die Erde, wenn er aufsteigt,
die Sprache ist zuallererst Gedanke,
und gedacht ist ihre Schönheit.

Binden wollen wir an Wahrheiten aus Geist
das Innere der flüchtig leichten Formen,
dass die Idee in allem herrsche souverän;
auf, gestalten wir den Nebel. 

(übersetzt von Gerhard Poppenberg)

- Spanische und hispanoamerikanische Lyrik, Band 3, 2022, 87-8

Erfurter Anthologie

Credo poético

Piensa el sentimiento, siente el sentimiento
que tus cantos tengan nidos en la tierra,
y que cuando en vuelo a los cielos suban
tras las nubes no se pierdan.

Peso necesitan, en las alas peso,
la columna de humo se disipa entera,
algo que no es música es la poesía,
la pesada sólo queda.

Lo pensado es, no lo dudes, lo sentido.
¿Sentimiento puro? Quien en ello crea,
de la fuente del saltir nuna ha llegado
a la viva y honda vena.

No te cuides en exceso del ropaje,
de escultor, no de sastre, es tu tarea,
no te olvides de que nunca más hermosa
que desnuda está la idea.

No el que un alma encarna en carne, tan presente,
no el que forma da a la idea es el poeta
sino que es el que alma encuentra tras la carne
tras la forma encuentra idea.

De las fórmulas la broza es lo que hace
que nos vele la verdad, torpe, la ciencia;
la desnudas con tus manos, y tus ojos
gozarán de su belleza.

Busca líneas de desnudo, que aunque trates
de envolvernos en lo vago de la niebla,
aun la niebla tiene líneas y se eculpe;
ten, pues, ojo, no las pierdas.

Que tus cantos sean cantos esculpidos,
ancla en tierra mientras tanto que se elevan,
el lenguaje es ante todo pensamiento,
y es pensada su belleza.

Sujetemos en verdades del espíritu
las entrañas de la formas pasajeras,
que la Idea reine en todo soberana;
esculpamos, pues, la niebla.

 

Gerade in dieser Spannung von Offenheit und existentieller Suche möchten wir arbeiten und haben die Erfahrung gemacht, dass die Vielstimmigkeit und die zugleich tief persönliche Zugangsweise von Lyriker:innen mit ihren sprachlichen Gesten genau dies zulassen: Eine Lyrik, die in der Suche nach einem Bekenntnis die Frage darin stellt, nämlich insofern, dass Lyrik durch das Kaleidoskop von Sprache schauen lässt, Lyrik zeigt an und zeugt damit für die bleibend Frage, sei sie nach der Welt, nach Gott oder nach dem Leben. Bekenntnis heißt darin nicht Feststellung, Erklärung oder Ansage, sondern Spur, Suche und Sehnsucht.

Die Beiträge werden redaktionell betreut und gestaltet von Sophie von Kalckreuth und Tom Sojer.

Bisher erschienen sind:

Konstantin Stawenow (Erfurt): Gethsemane

Hildegard König (Chemnitz): bethlehems kinder

Beathe Krethlow (Bern): Paradiesische Tempi

Siljarosa Schletterer (Innsbruck): tuffbach 47°16'51.5''N 11°24'00.7''O

Zum Hören und Sehen der Gedichte geht es auf die Seite von KThF.