Forschungsprofil

Gothaer Forschungen zur Neuesten Zeit

Seminar

Im Jahr 2013 erfolgte eine inhaltliche Erweiterung des Forschungszentrums Gotha um einen zweiten Schwerpunkt im Bereich der Wissenskulturen des 19. und 20. Jahrhunderts. Konzentriert auf die Erforschung der neueren Gothaer Sammlungen, insbesondere auf die außergewöhnliche Sammlung Perthes wurde hier in ein exploratives Forschungsprogramm investiert. Dies geschah auch mit Blick auf eine wissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit, die es etwa im Rahmen der alljährlich stattfindenden gemeinsam mit der Forschungsbibliothek Gotha ausgerichteten Gothaer Kartenwochen zu erreichen galt. Nationale wie internationale Tagungen und Workshops sowie die Arbeit mit exzellenten Stipendiat*innen, Nachwuchswissenschaftler*innen und vor Ort anwesenden Senior Fellows machten die Attraktivität Gothaer Forschungen zur Neuesten Zeit aus. Neben ersten Promotionsvorhaben wurden in breiter angelegten Kooperations- und Verbundprojekten neue Umgangsweisen vor allem mit den in der Sammlung Perthes verwahrten unterschiedlichen, weit über den exzeptionellen Kartenbestand hinausreichenden Materialien erprobt. Diese entstammten vor allem dem hauseigenen Verlagsarchiv und der dazugehörigen Bibliothek. Mit all diesen Aktivitäten verband sich das Anliegen, Ansätze einer transdisziplinären, globalhistorisch informierten Sammlungs- und Wissensforschung zu entwickeln, die sich aufs Engste mit innovativen Forschungsfragen und -perspektiven aus den Geschichtswissenschaften, der Wissenschaftsgeschichte, den Literatur- und Medienwissenschaften sowie aus den Politik- und Religionswissenschaften verknüpft.

Erst jüngst ist diese Abteilung des Forschungszentrums als Forschungskolleg Transkulturelle Studien / Sammlung Perthes (FKTS/SP) verselbständigt worden und verfügt ebenfalls über den Status einer wissenschaftlichen Einrichtung der Universität Erfurt. Dies geschah in enger Kooperation mit Kolleg*innen der Philosophischen Fakultät sowie anderer Fakultäten, die sich nun als Gründungsmitglieder am künftigen Aufbau beteiligen. Das Spektrum der Forschungsaktivitäten hat sich so nochmals erweitert, die transdisziplinäre Ausrichtung verstärkt. Und so versteht sich das Forschungskolleg, in der nationalen wie internationalen Forschungslandschaft bereits ausgezeichnet vernetzt, als eine Plattform für inter- wie transdisziplinäre Studien zur Genese der heutigen globalen Welt. Die Forschung orientiert sich dabei ebenso wie die stets forschungsorientierte Lehre an den neueren Gothaer Sammlungszusammenhängen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und richtet nach wie vor ein besonderes Augenmerk auf die herausragenden Bestände der Sammlung Perthes. Dabei eröffnen die Themen des Forschungskollegs bislang für die Forschung kaum betretene Pfade: mit einer Wissensgeschichte, die sich explizit den Media and Visual Studies zuwendet, mit Studien zur Genese und den Verwerfungen der (post-)kolonialen Welt oder auch mit Arbeiten zu den vielschichtigen Genealogien des Anthropozän. Im Zentrum des neu gegründeten Forschungskollegs steht so die Konturierung und Profilierung einer relational ausgerichteten, transkulturellen Wissensforschung sowie einer Wissensgeschichte des Globalen, die disziplinär offen ausgerichtet – von Gotha ausgehend – die vielzitierten Beziehungen zwischen Globalität und Lokalität ergründen will und dabei (post)koloniale Zusammenhänge und Bedingungsgefüge miteinbezieht. Auf diese Weise verfolgt das Forschungskolleg das Ziel, die Strahlkraft des Sammlungs- und Forschungsstandorts Gotha in einem bisher eher vernachlässigten Bereich deutlich zu erhöhen. Dabei setzt es explizit auch auf aktuelle und zugleich relevante Themen der heutigen Zeit, die für ein breiteres Publikum von Interesse sein dürften.

Gothaer Forschungen zur Neuesten Zeit, so der Vorschlag, konzentrieren sich innerhalb des Netzwerks Friedenstein-Gotha zunächst auf vier Bereiche, was freilich weitere zusätzlich zu entwickelnde Schwerpunkte nicht ausschließt:

Expeditionen – Wissen im Feld

Feldforschung, mithin Wissenspraktiken im sogenannten „Feld“, werden in der in der historischen Wissensforschung viel diskutiert verbunden mit der Annahme, dass sich die Verfahren der Wissensgenese hier anders vollzögen als im Labor oder am Schreibtisch des Gelehrten. War die Debatte lange Zeit von der Annahme einer Autonomie oder gar epistemischen Wildheit und Authentizität des Feldes bestimmt, so interessiert neuerdings das Zusammenspiel, welches das im Feld generierte Wissen mit dem Wissen der sogenannten Stubengelehrten verknüpft. Entsprechend rücken Fragen nach der Glaubwürdigkeit, Autorität aber auch die dazugehörigen Aushandlungsverfahren sowie Macht- und Geltungsansprüche ins Zentrum. All dies verlangt eine disziplinär offen zu konzipierende, methodisch reflektierte Kultur- und Sozialgeschichte des Wissens, die die Kompetenzen der Area Histories explizit mit einbezieht.

Die Gothaer Bestände der neuesten Zeit bieten für diesen Fragekomplex herausragende Voraussetzungen: So sind in der Sammlung Perthes sowie in weiteren Sondersammlungen der Forschungsbibliothek und in der Stiftung Schloss Friedenstein umfängliche Materialsammlungen „aus dem Feld“ abgelagert, teils gegenständliche Objektsammlungen, teils Skizzen und Feldtagebücher mit bisweilen umfänglichen Datensammlungen und Notizen. Das hierzu gehörige Schriftgut, vor allem Briefe, ist ebenfalls umfänglich, dies legt eine Auseinandersetzung mit Ansätzen der Selbstzeugnisforschung nahe. Hinzu kommen Materialien, die die Neuordnung des im Feld gesammelten Wissens und seine Weiterverarbeitung dokumentieren und die ihrerseits aufzeigen, welch heterogene, kontingente Assemblages für die „Maps in the making“ herangezogen werden sollten.

Zu den bisher in diesem Bereich laufenden Projekten siehe beispielhaft „Kartographische Quellen und Territoriale Transformationen Äthiopiens seit dem späten 18. Jahrhundert (ETHIOMAP)“.

Bild: Kartenentwurf von Werner Munzinger zur Erforschung der Gebiete der Habab- & Beni-Amer-Völker Januar-Oktober 1871, nebst Übersicht der gegenwärtigen Kenntniss der Nord-Abessinischen Grenzländer Bogos, Mensa, Marea © Sammlung Perthes der Forschungsbibliothek Gotha, SPK 547-111827566.

Karten – Natur – Wissenschaft: Genealogien einer Wahlverwandtschaft

Ein zweiter Arbeitsschwerpunkt verbindet sich mit dem Ziel, die Wissenskulturen des 19. und 20. Jahrhunderts auch mit Blick auf die Kulturen der Naturforschung neu zu lesen. Dieser Bereich knüpft explizit an die inhaltliche Arbeit des Sammlungs- und Forschungsverbunds Gotha an, spezifiziert ihn zugleich aber auch mit einem Fokus auf „Karten“. Entscheidende weitere Impulse gingen von dem BMBF-geförderten Verbundforschungsprojekt „Karten-Meere“ aus, das seit Mitte 2018 den erstaunlichen Befund zum Ausgangspunkt nahm, dass sich die Gothaer „Kartographien der Meere“ in die Genealogien der sich zeitgenössisch ausbildenden Ozeanographie einschreiben. Entscheidend war auch hier der Versuch, die Ozeanographie mithilfe des epistemischen Instruments der Karte wissenschaftlich auch für ein breiteres Publikum zu profilieren. Diese Bewegung lässt sich auch für andere der sich im 19. Jahrhundert immer weiter ausdifferenzierenden Natur-Wissenschaften nachweisen, die ebenfalls auf das epistemische Instrument der Karte zurückgriffen: Hierzu gehören neben der Meteorologie, der Botanik, der Geologie und der Mineralogie weitere Teilbereiche, die heute weniger wissenschaftlichen Status für sich beanspruchen können wie etwa die Rassenkunde oder auch die Anthropogeographie. Alle diese Wissenschaften waren freilich teilweise für das koloniale Projekt von erheblicher Bedeutung. Verteilungskarten waren omnipräsent – und das nicht zuletzt in Hinblick auf die vielfältigen Versuche einer Verwissenschaftlichung des Kolonialen.

Das „naturwissenschaftliche Zeitalter“ war somit auch ein Zeitalter der Kartographie, was sich in der Sammlung Perthes vorrangig in den umfangreichen Beständen zum Physikalischen Atlas niederschlug. Der ersten und zweiten in den 1840er und frühen 1850er Jahren erschienenen, und von Alexander von Humboldt und Heinrich Berghaus besorgte Auflagen bieten bereits eine Fülle von Materialien, gefolgt von der umfänglichen dritten Auflage, die zu Beginn der 1890er Jahre den aktuellen Stand der Naturwissenschaften zu dokumentieren suchte.

Sie dazu: BMBF-Verbundprojekt „Karten-Meere. Für eine Geschichte der Globalisierung vom Wasser aus“.

Zum Weiterlesen einige Fundstücke aus dem Karten-Meere Blog: Wolfgang Struck, »Justus Perthes’ erste Karte« und Petra Weigel, Eine Insel der Meeresforschung in Gotha sowie als weiterführendes Promotionsprojekt: Das naturwissenschaftliche Zeitalter in der Provinz – Forschen, Sammeln und Präsentieren als gesellige Praktiken um 1900.

Bild: Eisverbreitung, einst und jetzt. Polar Ansicht der Erde in Lambert’s flachenrechter Azimuthal-Projection, in: Berghaus’ Physikalischer Atlas, Nr. 5, Gotha 1892.

Wissensdinge sammeln: Für eine transdisziplinäre Sammlungsforschung

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Die Residenzstadt Gotha seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als einen Ort des Sammelns und des Wissens zu begreifen, bildet einen dritten wichtigen Ausgangspunkt der Arbeit am Forschungskolleg Transkulturelle Studien / Sammlung Perthes, den wir gemeinsam mit Kolleg*innen der Philosophischen Fakultät intensiv verfolgen. Ein Anliegen ist es, diese Perspektive innerhalb der Gothaer Forschungslandschaft weiter zu profilieren. Schließlich bergen die Bibliothek, das Schloss, das Museum und das Archiv mitsamt den dazugehörigen Magazinen und Depots sowie insbesondere die Überlieferung des Verlags Justus Perthes und seiner Nachfolger eine große Fülle und Vielfalt von Sammlungen: Verzeichnet in Inventaren, Katalogen und Listen, verpackt in Mappen, Schachteln, Kartons, oder auch unverpackt im Regal stehend bzw. in eigenen Vorrichtungen lose gehängt, sind all diese Sammlungsgüter und das in ihnen versammelte lokale wie globale Wissen in verschiedensten Hinsichten erforschbar. Fest eingebunden, als gleichsam verbindlich zusammengefügte Kartenabfolge, lassen sich Atlanten als Sammlungen eigenen Typs begreifen – ja, bei genauerem Hinsehen ist auch die einzelne Karte eine Ansammlung von Wissen, das auf die Besonderheiten des Sammelns mitsamt den Verfahren des Anordnens und des Aussonderns abhebt und das sich so zu erforschen lohnt.

Siehe dazu unter anderem: „Wissen sammeln in der Provinz – Eine Wissensgeschichte der Gothaer, Göttinger und Lübecker Sammlungen in globaler Perspektive“ und Forschungsgruppe „Kulturtechniken des Sammelns“.

Wissen verkaufen: Verlagsgeschichte und andere Wissensökonomien

Das Forschungskolleg Transkulturelle Studien / Sammlung Perthes richtet eine Arbeitsstelle Verlagsgeschichte ein. Diese wird die Forschungen zur Sammlung Perthes mit einem besonderen Schwerpunkt auf die drei Verlagsunternehmen ausweiten, deren Überlieferungen die Sammlung vereint. In regelmäßigen Treffen führt die Arbeitsstelle Bild-, Kunst- und Buchwissenschaftler*innen sowie Wissenschaftler*innen aus den Bereichen Geographie, Geschichte und Wissenschaftsgeschichte zusammen. Jüngste Forschungen konzentrierten sich vor allem auf die Anfangszeit sowie die Hochzeit der Verlagsentwicklung im 19. Jahrhundert, als der Gothaer Verlag unter dem Namen „Justus Perthes Geographische Anstalt Gotha“ zu einem global agierenden Unternehmen aufstieg. Künftig soll nun auch die Geschichte des Verlags in den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt rücken, mithin die Zeit der „VEB Hermann Haack Geographisch-Kartographischen Anstalt Gotha“ sowie der 1953 in der Bundesrepublik gegründeten „Geographischen Verlagsanstalt Justus Perthes Darmstadt“.

In diesem Zusammenhang folgt im Sommersemester 2021 das erste Forschungsseminar, in dem Studierende einen gezielten Blick auf wechselvolle Geschichte des Perthes Verlags werfen sollen. Das breite Spektrum an möglichen Arbeitsthemen reicht von Studien zu einzelnen Verlagsprodukten, Katalogen, Festschriften, Korrespondenzen, Verlegern und Mitarbeiter*innen bis hin zu Filmanalysen und Arbeiten im Bereich Oral History. Das Forschungsseminar wird im Wintersemester fortgesetzt.

Bild: Ahnensaal des Perthes Verlags © Sammlung Perthes / Forschungsbibliothek Gotha.