Sammeln zählt zweifellos zu den ältesten Kulturtechniken, und es gehört in vielfachen Ausdifferenzierungen zu den konstitutiven Praktiken auch gegenwärtiger Kulturen. Gesammelt wird, was sich zwischen den Polen des Notwendigen und des Nutzlosen bewegt: Nahrungsmittel oder Feuerholz, Knochen von Toten oder geleerte Sardinenbüchsen, Sammelbilder oder Gipsabgüsse antiker Statuen. Aber auch Urkunden, Manuskripte, Zitate, Informationen oder Indizien werden gesammelt und, forciert durch die Digitalisierung, Daten und Metadaten.
Aus dem Sammeln sind Techniken, Medien und Institutionen hervorgegangen, die weit über einzelne Sammlungen hinaus von Bedeutung sind: Techniken des Präparierens, Konservierens, Klassifizierens, Vergleichens, Kommentierens; Medien und Institutionen wie Nekropolen, Wunderkammern, Museen, Bibliotheken, Enzyklopädien, Datenbanken. Sammlungen erzeugen Konstellationen und eröffnen, regulieren oder verschließen Zugänge, sie dienen der Vergewisserung kollektiver Identitäten, der Repräsentation von Macht und der Produktion von Wissen.
Daraus ergeben sich Fragen nach dem Zusammenhang von Sammeln und Gewalt, nach der Unrechtmäßigkeit von Aneignungen und der (Un-)Möglichkeit, diese zu ‚heilen‘, aber auch jene nach der Unordnung und Zerstreuung, die das Sammeln mit sich bringt, nach den vielfältigen Verschränkungen zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital und nach der Verflechtung von Materialität und Immaterialität. Diese – häufig beunruhigenden – Fragen führen weit über die Provenienz einzelner Objekte oder Objektklassen hinaus; sie betreffen die kulturelle Virulenz des Sammelns überhaupt.
Das Sammlungsensemble Gotha, das reichhaltige, global angelegte Objekt- und Kunstsammlungen von der Frühen Neuzeit bis ins 19. und 20. Jahrhundert (Stiftung Schloss Friedenstein), eine Bibliothek mit einzigartigen historischen Handschriften- und Druckbeständen (Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt) sowie eines der weltweit bedeutendsten, vom 19. Jahrhundert über das ‚Dritte Reich‘ und die DDR bis in die Zeit nach der Vereinigung reichenden, geo- und kartographischen Archive (Sammlung Perthes) umfasst, bildet ein prädestiniertes Feld, um diese Fragen in einer systematischen wie historischen Perspektive zu reflektieren. Das Kooperationsprojekt „Kulturtechniken des Sammelns“ (Erfurt—Gotha) dient dem Aufbau einer nachhaltigen Forschungsinfrastruktur, die die Forschungsgruppe „Kulturtechniken des Sammelns“ an der Universität Erfurt sowie weitere Forscher*innen an den Universitäten Weimar und Jena mit den verschiedenen Sammlungsinstitutionen in Gotha verbindet. Damit soll das einzigartige Sammlungsensemble insbesondere für Nachwuchswissenschaftler*innen besser zugänglich werden, denen sich hier besondere Möglichkeiten der Qualifikation im Hinblick auf Praxis und Theorie des Sammelns sowie spezieller Sammlungen bieten.
Bild: © Zoonar/Walter G. Allgöwer
Team an der Universität Erfurt:
Prof. Dr. Wolfgang Struck (Projektleitung)
Prof. Dr. Iris Schröder
Dr. Jana Mangold
Nadine Fechner, M.A.
Weitere Antragsteller*innen:
Prof. Dr. Anja Laukötter (FSU Jena)
Prof. Dr. Jörg Paulus (BU Weimar)
Laufzeit:
01/2023–12/2025
Förderung:
Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft (TMWWDG): 335 000 Euro
Seminarankündigung “Die kleine Freiheit 2” – Wintersemester 2024/25
Das Kooperationsprojekt “Kulturtechniken des Sammelns (Erfurt–Gotha)” bietet im Wintersemester 2024/25 erneut eine Gelegenheit, um sich an den Forschungsaktivitäten des Projekts zu beteiligen. Im Rahmen des Studium Fundamentale findet das Seminar “Die kleine Freiheit 2: Feste, Fotografie, Oral History” statt.
Das Seminar nimmt eine bislang kaum erschlossene Fotosammlung der Friedenstein Stiftung Gotha in den Blick, die eine große Zahl von Aufnahmen verschiedenster Feierlichkeiten aus rund 120 Jahren Stadtgeschichte enthält. Diese Fotografien sollen im Gespräch mit Bürger*innen Gothas erschlossen werden: Wie wurden diese Feste erlebt? Waren sie Momente der Freiheit, der entlastenden Überwindung von Routinen und sozialen Zwängen? Oder wurden sie als Repräsentation von Macht und Kontrolle empfunden, vor allem während der SED-Diktatur? Wie ließ sich zwischen geselligem Anlass und staatlicher Lenkung feiern?
Teilnehmer*innen des Seminars werden diesen Fragen in methodisch vorbereiteten Oral History-Interviews mit Gothaer Bürger*innen nachgehen, um ausgewählte Fotografien der Sammlung besser verstehen und kontextualisieren zu können. Die gewonnenen Ergebnisse sollen in eine Ausstellung der Stiftung einfließen, die virtuell und/oder vor Ort in Gotha im Jahr 2025 zu sehen sein wird. Dabei bekommen die Studierenden die Möglichkeit, aktiv an der Präsentationsform mitzuwirken. Den Auftakt für das Seminar bildet ein Tagesworkshop der Oral-History-Forschungsstelle der Universität Erfurt, der grundlegende Vorgehensweisen der Oral History sowie der partizipativen Forschung vermittelt.
Ein ausführlicher Artikel zum Seminar ist im News-Bereich des Studierendenrates zu finden.
Seminarankündigung “Die kleine Freiheit” – Sommersemester 2024
Das Kooperationsprojekt “Kulturtechniken des Sammelns (Erfurt–Gotha)” bietet im Sommersemester 2024 das Seminar “Die kleine Freiheit: Fest, Fotografie, Erinnerungskultur” im Studium Fundamentale an der Universität Erfurt an. Das Seminar erforscht das Verhältnis von Freiheit und Feiern – basierend auf der Theorie, dass im Fest Hierarchien und soziale Zwänge zeitweise aufgelöst und die Routinen des Alltags ausgesetzt sind.
Dabei soll das Fest nicht nur theoretisch beleuchtet werden, sondern diese Theorien sollen auch praktisch angewendet werden. Im Zentrum steht dabei eine umfangreiche, größtenteils unerschlossene Sammlung historischer Festfotografien der Friedenstein Stiftung Gotha. Die Aufnahmen decken einen langen Zeitraum von etwa 120 Jahren sowie ein breites Spektrum an Feierlichkeiten ab – von privaten und spontanen Festen bis hin zu großen öffentlichen Veranstaltungen. So lässt sich untersuchen, wie sich die Rolle und Bedeutung von Festen sowie die Auffassungen von Freiheit in verschiedenen politischen Systemen verändert haben.
Zu Beginn des Seminars werden die Studierenden ausgewählte Fotografien der Sammlung sichten und besprechen. Anschließend soll die Gruppe durch Senior*innen aus Gotha erweitert werden, um generationsbedingt unterschiedliche Erlebnisse von Freiheit bei festlichen Ereignissen zu diskutieren. Bei diesen Treffen werden auch Privatfotografien der Senior*innen hinzugezogen. Darüber hinaus ist ein gemeinsamer Rundgang durch die Gothaer Innenstadt geplant: An verschiedenen Plätzen werden die Studierenden historische Fotografien vom selben Ort vorstellen, und die Senior*innen können diese mit ihren persönlichen Erinnerungen ergänzen. So sollen Stadtgeschichte und Familiengeschichten zusammenkommen. Den Abschluss des Seminars bildet ein kleines Sommerfest mit “Fotokaraoke”.