Olivia Mitscherlich-Schönherr

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Olivia Mitscherlich-Schönherr

Klüger werden. Wie lässt sich die zentrale Kompetenz öffentlicher Krisenbewältigung vervollkommnen? 

Das Forschungsprojekt will zur Vervollkommnung von öffentlicher Klugheit in der sozio-ökologischen Mehrfachkrise der Gegenwart beitragen.

In seinen Bemühungen um eine Erneuerung von öffentlicher Klugheit ist das geplante Projekt von einer mehrfachen Annahme getragen, die bei seiner Umsetzung zu überprüfen ist. In Aristotelischer Tradition versteht es Klugheit als zentrale Disposition gelingenden Lebens: als den genuin praktischen Vernunftgebrauch, nicht nur theoretisch zu wissen, worin im Allgemeinen ein gutes Leben besteht, sondern vielmehr in konkreten Lebenssituationen so handeln zu können, dass das Leben in actu gelingt. Darüber hinaus geht das Projekt davon aus, dass kluges Urteilen und kluges Handeln in der Öffentlichkeit stattfinden und dass sie in verschiedenen öffentlichen Kontexten unterschiedlich ausgestaltet werden. Die Auffassungen öffentlicher Klugheit, die in den kapitalistischen Demokratien des Westens vorherrschen, findet es in funktionalistischen Klugheitsformen: in der instrumentellen bzw. pluralistischen Klugheit, die an der Schnittstelle von empirischen Wissenschaften, Ingenieurskunst und kapitalistischem Markt bzw. in den demokratischen Verfahren ausgeübt werden. Und schließlich begreift das Projekt bedrohliche und unübersichtliche Krisensituationen als Nagelproben für die öffentlich vorherrschenden Gestalten von Klugheit. Es geht davon aus, dass in der sozio-ökologischen Mehrfachkrise der Gegenwart die inneren Widersprüche der funktionalistischen Klugheitsauffassungen westlicher Gesellschaften in Erscheinung treten.

An einer Erneuerung von öffentlicher Klugheit soll das Projekt mit kritischen und affirmativen Überlegungen mitwirken. Es soll nicht nur die Defekte der vorherrschenden funktionalistischen Formen klugen Urteilens und Handelns analysieren. Es soll auch Möglichkeiten der Vervollkommnung von öffentlicher Klugheit erörtern. Dabei wird es von der Annahme angeleitet, dass sich Klugheit – als Disposition von handelnden Menschen in öffentlichen Kontexten – nur vervollkommnen lässt, wenn politisch-institutionelle und ethisch-existentielle Transformationen ineinandergreifen. In politisch-institutioneller Hinsicht sollen die Potenziale von neuen Institutionen der deliberativen Demokratie – wie Bürgerräten – für eine Vervollkommnung öffentlicher Klugheit ausgeleuchtet werden. In ethisch-existenzieller Hinsicht sollen in geistesgeschichtlichen ‚Tiefenbohrungen‘ spirituelle Erfahrungssedimente freigelegt werden, die in den funktionalistischen Klugheitsauffassungen der kapitalistischen Demokratien abgedrängt sind. Das Projekt soll sich insbesondere mit pathisch-hingebenden Haltungen zum Begegnenden auseinandersetzen, die u.a. in der christlichen Tugendethik als Quellen von Klugheit verstanden worden sind. Zu untersuchen ist, inwiefern spirituelle Erfahrungen, Praktiken und Rituale in einer postsäkularen Gesellschaft für eine Vervollkommnung öffentlicher Klugheit furchtbar gemacht werden können.

Bei der Umsetzung der skizzierten Vorhaben verbindet das Projekt drei Teilprojekte. Geplant sind zwei interdisziplinäre Tagungsprojekte zu den politisch-institutionellen bzw. ethisch-existenziellen Aspekten prudentieller Vervollkommnung: das deutsch-französische Kolloquium „Conseils citoyens, une contribution à une démocratie épanouie? / Welchen Beitrag können Bürgerräte zu einer gedeihenden Demokratie leisten?“ und die Fachtagung „Klüger werden? Die Vervollkommnung öffentlicher Klugheit aus religiösen Quellen“. Die Tagungen finden im April bzw. Juni 2025 an der Universität Aix-Marseille in Aix-en-Provence bzw. am Max-Weber-Kolleg in Erfurt stattfinden. Tagungsbände sind geplant. Parallel dazu sollen die erzielten Ergebnisse für eine breitere Öffentlichkeit in Form eines längeren Essays aufbereitet werden. In dem Essay sollen mit phänomenologischen Mitteln insbesondere spirituelle Narrative, Praktiken und Rituale als Klugheitsquellen zugänglich gemacht werden. 

  • Kann das Anthropozän gelingen? Krisen und Transformationen der menschlichen Naturverhältnisse im interdisziplinären Dialog (mit Mara-Daria Cojocaru und Michael Reder, Berlin 2024: de Gruyter)
  • Erotisches Philosophieren (München 2022: Claudius).
  • Das Gelingen der künstlichen Natürlichkeit. Mensch-Sein an den Grenzen des Lebens unter den Bedingungen disruptiver Technologien (Berlin 2021,²2023: de Gruyter)
  • Das Gelingen der Geburt. Interdisziplinäre Erkundungen in umstrittenen Terrains (mit Reiner Anselm, Berlin 2021, ²2022: de Gruyter)
  • Gelingendes Sterben. Zeitgenössische Theorien im interdisziplinären Dialog (Berlin 2019, ²2021: de Gruyter)
  • Die Unergründlichkeit der menschlichen Natur (mit Matthias Schloßberger, Berlin 2015: de Gruyter)
  • Das Glück des Glücks. Philosophische Anthropologie des guten Lebens (mit Matthias Schloßberger, Berlin 2014: de Gruyter)
  • Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch (mit Dieter Thomä und Christoph Henning, Stuttgart 2011: Metzler)
  • Natur und Geschichte. Helmuth Plessners in sich gebrochene Lebensphilosophie (Berlin 2007: Akademie-Verlag)