Wissen sammeln in der Provinz – Eine Wissensgeschichte der Gothaer, Göttinger und Lübecker Sammlungen in globaler Perspektive

Auch abseits der Metropolen entstanden im ‚langen‘ 19. Jahrhundert umfangreiche Sammlungen. Ausgehend von Gotha, Göttingen und Lübeck soll das Projekt übergreifend Motivlagen und Konstellationen des Sammelns als Formierungen von Wissen an den drei Orten erforschen. Zu untersuchen ist, wie Sammlungen verschiedene (städtische, akademische, höfische und ökonomische) Wissenskulturen formten und auch welche Praktiken und Forschungsmethoden sich an und mit den Sammlungen und deren Objekten herausbildeten. Unsere Ausgangsthese ist, dass Wissensbestände an den jeweiligen Orten von verschiedensten Akteur*innen und auf unterschiedliche Art und Weise hervorgebracht wurden. Die Wissensorte in der Provinz standen im Zentrum unterschiedlicher Zirkulationsprozesse; globale und lokale Netzwerke verschränkten sich über die Akkumulation von Wissensdingen miteinander und traten in wechselseitigen Austausch. Universitäten und Höfe, bürgerliche Vereine und Gesellschaften sowie kommerziell ausgerichtete Handelskompanien und Verlagshäuser trugen Daten und Dinge zusammen, die der Wissensproduktion dienten - ein Beitrag, der bislang freilich in der klassischen Universitätsgeschichte und der dazugehörigen Geschichte der Disziplinen oft übersehen worden ist.

Trotz der unterschiedlichen städtischen Ausgangslage liegen in Gotha, Göttingen und Lübeck ähnliche und deshalb auch vergleichbare Bestände vor, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in unterschiedlichen lokalen, institutionellen und kulturellen Kontexten formierten und weiterentwickelten: Für Gotha sind die im 19. Jahrhundert kontinuierlich erweiterten Sammlungen der Herzöge (heute: Stiftung Schloss Friedenstein Gotha) relevant. Zu erforschen sind dabei insbesondere die Transformationen der Sammlungen im Verlaufe des 19. Jahrhunderts, eine besondere Aufmerksamkeit gilt der Etablierung des Doppelherzogtums Sachsen-Coburg und Gotha im Jahre 1825 sowie der Eröffnung des Herzoglichen Museums 1879. Neben dem Herzogshaus gab es in Gotha den Verlag Justus Perthes, der sich als zunehmend weltweit agierendes Unternehmen zur gleichen Zeit zu einem global aktiven Zentrum der Kartenproduktion profilierte und zudem zu einem wichtigen Ort für die naturkundliche und geografische Wissensforschung avancierte. Im Gothaer Verlagshaus wurden allerdings nicht nur Karten-, Bücher- und Korrespondenzsammlungen angelegt; stattdessen beteiligte sich der Verlag aktiv an der Organisation von Expeditionen, wie beispielsweise der Afrikaexpedition von 1861/62 unter Leitung Theodor von Heuglins. Unternehmungen wie diese sollten ihrerseits auch die naturkundlichen Sammlungen vor Ort bereichern, schließlich gelang es Heuglin, den Herzögen Vogelpräparate aus Ostafrika zu verkaufen. Die vielschichtigen Gothaer Aktivitäten trugen so erheblich zu den Kulturen der Naturforschung des 19. Jahrhundert bei. Überdies waren sie eng mit anderen Orten verbunden, nicht zuletzt mit der Universität Göttingen. Hier wurde anfangs vor allem im Umfeld der Universität gesammelt. Zunächst waren es einzelne Professoren, die für ihr Forschungsgebiet relevante Sammlungen aufbauten, dann mit dem Akademischen Museum die Institution Museum selbst. In Lübeck gehen die ältesten Sammlungen auf die „Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit" zurück. Sie wuchsen im Laufe des 19. Jahrhunderts in einer durch regionalen wie globalen Handel geprägten Stadt durch bürgerschaftliches Engagement und umfängliche Sammler*innennetzwerke auf lokaler wie globaler Ebene weiter an. 1893 wurden sie im neugegründeten „Museum am Dom“ vereinigt.

Anhand von Objekten, Orten, Institutionen wie Verlag, Verein, Gesellschaft oder Universität sowie Personen und anderen Akteur*innen soll das Vorhaben analysieren, wie Sammlungen (Objekt-)Wissen generieren, wie bestimmte Wissensformen in spezifischen Konstellationen und institutionellen Settings eigenständige Wissensbereiche ausbildeten und damit auch zur Formierung von Disziplinen beitrugen. Es wird damit einen Beitrag zur Untersuchung der Frage leisten, in welchen lokalen, globalen und seit der Mitte des 19. Jahrhundert zunehmend auch kolonialen Kontexten Sammlungen entstanden und wie sie in ihrer Breite zur Wissensgenerierung beitrugen, um schließlich auch die geläufige Trennung in ‚Metropolen‘ und ‚Provinzen‘ zu hinterfragen. Das Vorhaben führt Kolleg*innen der Georg-August-Universität Göttingen, des Zentrums für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck und der Universität Erfurt zusammen. Geplant ist die Arbeit im Rahmen eines größeren Verbundvorhabens fortzuführen.

Bild: Martin Theodor von Heuglin, Ornithologie Nordost-Afrikas, der Nilquellen und Küsten-Gebiete des Rothen Meeres und des nördlichen Somal-Landes, Bd. 1, Abt. 1, Cassel 1869.

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(Forschungskolleg Transkulturelle Studien / Sammlung Perthes)
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Bild: Heuglin, Martin Theodor von, Ornithologie Nordost-Afrikas, der Nilquellen und Küsten-Gebiete des Rothen Meeres und des nördlichen Somal-Landes, Bd. 1, Abt. 1, Cassel 1869.