Corpus Inscriptionum Latinarum - Ergänzungsband zu Band XIII, 2:

Die Edition der römischen Inschriften Germaniens (Sektion II)


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Inschriften sind äußerst wichtige Quellen unseres Wissens über die Geschichte des Altertums. Sie ergänzen und bestätigen oder korrigieren nicht nur vielfach Nachrichten und Kenntnisse, die aus den Schriften der antiken Autoren mehr oder weniger bekannt sind, sondern enthalten auch größtenteils als Zeugnisse des täglichen staatlichen und privaten Lebens eine Fülle von Angaben und Nachrichten, die aus den literarischen Quellen nicht zu entnehmen sind. Hinzu kommt, daß sie als schriftliche Zeugnisse unmittelbar und in der Regel unverändert aus dem Altertum erhalten geblieben sind - Jahrhunderte älter als die ältesten Handschriften literarischer Texte - und daher wie die archäologischen Denkmäler und Funde, die Münzen und Papyri originale Zeugnisse ihrer Zeit darstellen. Für die Kenntnis der politischen und sozialen Verhältnisse in den beiden germanischen Provinzen in der römischen Kaiserzeit sind die lateinischen Inschriften in vielen Bereichen sogar die einzigen schriftlichen Zeugnisse, da die Zustände in den Randzonen des römischen Reiches außerhalb des Interesses der meisten antiken Autoren lagen.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Inschriften, die Epigraphik, setzte in der Renaissance ein. Vor allem deutsche Humanisten sammelten römische Denkmäler und veröffentlichten Inschriften und Bildwerke.

Zahlreiche Fürsten legten Privatsammlungen von griechischen und römischen Denkmälern an, die aber oft unsystematisch aus der gesamten römischen und griechischen Welt zusammengetragen wurden.

Mommsen

Die erste systematische und immer noch maßgebliche Sammlung und Edition lateinischer Inschriften ist das Corpus Inscriptionum Latinarum. Sie verdankt ihre Entstehung dem großen Berliner Gelehrten Theodor Mommsen (1817-1903), der 1863 den ersten Band mit den damals bekannten Inschriften der römischen Republik vorlegte und ferner auch die methodischen Grundsätze für die Publikation und die Konzeption des Werkes formulierte. In seiner 1858 an der Berliner Akademie der Wissenschaften gehaltenen Antrittsrede formulierte Mommsen sein Programm: Er wollte die Archive der Vergangenheit ordnen.

Dieses war um so notwendiger geworden, weil viele der aus älteren Sammlungen bekannten Inschriften bereits verschollen oder durch Kriegseinwirkungen zerstört, andere bekannt, aber nicht veröffentlicht waren, und die nunmehr überall aufblühende Archäologie laufend neue Funde zutage brachte. So sollte jedes Zeugnis nach Möglichkeit im Original verglichen (Autopsie) und unter Einbeziehung älterer Literatur kritisch geprüft werden. Die Edition sollte dem Ergebnis der Kritik entsprechen, Ergänzungen des Herausgebers und die Auflösung von Abkürzungen waren zu kennzeichnen, komplizierte Sachverhalte gegebenenfalls im Kommentar zu erläutern. Diese Vorgehensweise erforderte, daß die Inschriften regional zusammengestellt wurden, und man entschied sich dabei für eine nach römischen Provinzen geordnete Edition, ohne Berücksichtigung der modernen Grenzen. Dabei wurden häufig mehrere Provinzen - abhängig von der Zahl der Inschriftenfunde - in einem Band zusammengefaßt.

So enthält der Band XIII des CIL die Inschriften der drei gallischen und der beiden germanischen Provinzen. Dieser Band ist in insgesamt fünf Teilbände unterteilt: Die Steininschriften aus den germanischen Provinzen sind im Band XIII 2,1 (Germania Superior), erschienen 1905, und 2,2 (Germania Inferior), erschienen 1907, publiziert. Kleininschriften, Meilensteine und Militärdiplome finden sich in besonderen Bänden (Siehe unter den entsprechenden Unterkapiteln unter den Namen Sektion IV und Sektion VII).

Da sich nach Abschluß dieser Bände noch zahlreiche neue Inschriften fanden, wurde schon 1916 ein Ergänzungsband (Supplement) zum Band XIII veröffentlicht. Heute umfaßt das CIL 17 Bände mit zahlreichen Teilbänden und Supplementen, zuletzt erschien 1995 ein Supplement zu CIL II (Hispanien). Die Herausgabe obliegt seit 1863 unverändert der Berliner Akademie der Wissenschaften, die sich nach ihrer wechselhaften Geschichte als preußische Institution, später Akademie der Wissenschaften der DDR, heute Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften nennt.

Das bis 1995 von der DFG geförderte Osnabrücker Projekt zur Erstellung eines Supplementbandes zum Corpus Inscriptionum Latinarum für den Bereich Germanien unter der Leitung von Prof. Dr. Rainer Wiegels ist durchaus noch der ursprünglichen Methodik und Konzeption des CIL verpflichtet. Vergleichbare Projekte gibt es in Deutschland derzeit nur an der Universität Heidelberg in Verbindung mit der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik in München (CIL II (Hispanien)). Seit 1916 ist kein neuer Supplementband zu den germanischen Provinzen mehr erschienen. In den Jahren 1929, 1939, 1959 und zuletzt 1978 sind in der Zeitschrift "Berichte der Römisch-Germanischen Kommission" zwar vier sogenannte 'Nachträge' veröffentlicht worden, doch berücksichtigen diese in der Regel nur diejenigen innerhalb der jeweils aktuellen Grenzen Deutschlands gefundenen römischen Inschriften (H. Finke, Neue Inschriften. Ber. RGK 17, 1927 (1929), 1-107 u. 198-236; H. Nesselhauf, Neue Inschriften aus dem römischen Germanien und den angrenzenden Gebieten. Ber. RGK 27, 1938, 51-134; H. Nesselhauf/H. Lieb, Dritter Nachtrag zu CIL XIII. Inschriften aus den germanischen Provinzen und dem Treverergebiet. Ber. RGK 40, 1959 (1960), 120-229; U. Schillinger-Häfele; Vierter Nachtrag zu CIL XIII und zweiter Nachtrag zu Fr. Vollmer, Inscriptiones Baivariae Romanae. Inschriften aus dem deutschen Anteil der germanischen Provinzen und des Treverergebietes sowie Rätiens und Noricums. Ber. RGK 58, 2, 1977 (1978), 447-603. Die Herausgeber dieser Nachträge haben in vielen Fällen auf eine Autopsie der Inschriften vor Ort verzichtet. Dies machte erforderlich, daß seit Beginn des Projektes in Osnabrück im Jahre 1982 in den Museen, Ausgrabungsstätten und anderen Aufbewahrungsorten in Deutschland, der Schweiz und Frankreich über 5000 lateinische Inschriften vor Ort wissenschaftlich überprüft wurden. Hierzu gehörte sowohl die Autopsie der bis 1916 im CIL publizierten "Altfunde" als auch die wissenschaftliche Aufnahme der seitdem neu gefundenen Inschriften. Von allen gesehenen Inschriften wurden Fotos gemacht, so daß das Projekt über eine umfangreiche Fotodatei verfügt. Andere Dokumentationsverfahren (Sektion V) wurden im Einzelfall angewendet. Sämtliche Literatur, die sich auf die einzelnen Inschriften bezieht, wurde gesammelt, ausgewertet und in einer Kartei systematisiert. Diese Vorgehensweise, die einen hohen Aufwand an Vorbereitung, Material und Zeit erforderte, erwies sich letztlich als der einzig gangbare Weg, da nur die Arbeit an den einzelnen Aufbewahrungsorten eine gründliche Überprüfung des Bestandes und die kritische Lesung sowie die Fotodokumentation möglich machte. Diese Arbeitsweise stellt hohe Anforderungen an die Flexibilität der Projektmitarbeiter. Größere Bestände wie in Mainz oder Bonn erforderten jeweils mehrwöchige Kampagnen zur Aufnahme des Gesamtbestandes (Sektion III u. Sektion V).

Nahezu unüberwindbare Schwierigkeiten bereiteten die mehr als 1000 Inschriften bzw. Inschriftenfragmente in den Magazinen von Avenches (Kanton Waadt, Schweiz). Die übliche Autopsie wurde der Eigentümlichkeit des Materials nicht gerecht und eine genauere Autopsie hätte jeden üblichen zeitlichen Rahmen gesprengt. Um diese Inschriften dennoch für eine Edition bereitstellen zu können, entwickelte ein Mitarbeiter des Osnabrücker Projektes, Stefan Oelschig, das Teilprojekt "Katalog Avenches". Mit einem methodisch variierten Zugriff zeichnete er während eines mehrmonatigen Aufenthaltes vor Ort die Daten sämtlicher Inschriften auf, so daß auch dieses komplexe Material der weiteren Forschung zugänglich gemacht werden kann (Sektion VI).

Mittlerweile sind alle Inschriftenbestände aus dem Bereich Obergermanien wissenschaftlich aufgenommen worden, ebenso der gesamte große Bestand des Rheinischen Landesmuseums Bonn. Derzeit beschäftigt sich das Projekt mit der Edition der obergermanischen Inschriften nach den Richtlinien der Berliner Akademie und deren Umsetzung mittels Computer. Da ein großer Teil der Inschriftentexte nicht vollständig erhalten ist, muß der vorhandene Text unter Auswertung der Literatur so weit wie möglich philologisch-kritisch gesichert und gegebenenfalls ergänzt werden.

Die Herausgabe von philologisch-kritisch gesicherten Inschriftentexten in Quellensammlungen wie dem CIL macht ihre inhaltliche Auswertung in bezug auf ihre historischen Aussagen auf breiter Grundlage erst möglich. Angesichts der Fülle und der Streuung des Materials ist es aber für den einzelnen Altertumswissenschaftler kaum noch realisierbar, im Rahmen von umfangreicheren Untersuchungen alle Publikationsorgane einzusehen oder gar die Inschriften vor Ort in Augenschein zu nehmen. Aus diesem Grunde wird der neue Supplementband des CIL XIII für Jahrzehnte eines der wichtigsten Instrumente für Forschungen zur Geschichte des römischen Germaniens sein (Sektion IV).