Forschungsprogramm des Max-Weber-Kollegs
Das Max-Weber-Kolleg verfolgt ein Webersches Forschungsprogramm, das man kurz als interdisziplinäre und vergleichende Sozialwissenschaften mit großer historischer Tiefe und einem Interesse an normativen Fragen charakterisieren kann. In der Gründungs- und Aufbauphase des Kollegs richtete sich das Webersche Forschungsprogramm auf die folgenden Problemfelder:
- Religion, Wissenschaft und Recht als Deutungs- und Steuerungsmächte;
- Wechselwirkungen zwischen Kulturen, gesellschaftlichen Ordnungen und Mentalitäten bei radikalem Wandel;
- handlungstheoretische Grundlagen der Kultur- und Sozialwissenschaften und ihre Beziehung zu normativen, insbesondere ethischen Fragen.
Kulturvergleichende Analyse von Weltbeziehungen
Unter der Überschrift der kulturvergleichende Analyse von Weltbeziehungen hat das Max-Weber-Kolleg seine aktuellen drei thematischen Schwerpunkte gefasst und zugleich den am Kolleg arbeitenden Forschungsgruppen und Forschungsstellen eine gemeinsame Klammer gegeben. Zu den Forschungsgruppen zählen einerseits die auf eine bestimmte Zeitdauer (häufig identisch mit einer Förderperiode) angelegten Forschungsgruppen und andererseits die auf eine längere Dauer angelegten Forschungsstellen. Thematisch lassen sich diese den folgenden drei Schwerpunkten zuordnen, wobei Überschneidungen durchaus beabsichtigt sind.
Normativität und Gesellschaftskritik
Max Webers Lehre von den unhintergehbaren ‚Kulturbedeutungen‘ und ‚Wertbeziehungen‘ der Begriffe und Praktiken macht deutlich, dass Institutionen nicht nur durch Verfahrensregeln definiert werden, sondern auch durch die in ihnen angestrebten ‚Güter‘ und durch die ihnen zugrundeliegenden Wertvorstellungen. Ohne sie sind Handlungsweisen und Praktiken schlechterdings nicht verstehbar. Deshalb begreift das Max-Weber-Kolleg die Analyse von Normen und Wertvorstellungen als eine Kernaufgabe der Kulturwissenschaften, denn ohne sie sind die Kulturbedeutungen von Begriffen, mit denen wir die soziale Wirklichkeit beschreiben, sowie das soziale Leben selbst nicht zu erfassen. Normen und Werte treten aber immer auch in ein Spannungsverhältnis zur sozialen Wirklichkeit: Sie ermöglichen die Reflexion und Kritik bestehender Verhältnisse, die niemals mit ihnen völlig übereinstimmen.
Das Max-Weber-Kolleg untersucht daher einerseits die Entstehung, Verbreitung und Transformation von Normen und Werten und bemüht sich andererseits zugleich um eine sozialphilosophische Klärung der Frage nach den (sozialen und kulturellen) Bedingungen gelingenden menschlichen Lebens und gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Raum-Zeit-Regime und die Ordnung des Sozialen
Gesellschaften, Praktiken und Lebensformen sind niemals starr, sondern in stetiger Veränderung und Anpassung begriffen, um auf externe ebenso wie interne Herausforderungen zu reagieren. Indessen lassen sich deutliche Unterschiede beobachten im Hinblick auf die Art ihrer Stabilisierung und ihrer strukturellen Reproduktion. Das Verhältnis von Ordnung, Stabilität und Wandel erweist sich als historisch und kulturell überaus variabel. Nicht immer bedrohen oder gefährden Wandel und Veränderung die Stabilität von Ordnungsmustern und Institutionen – ganz im Gegenteil.
Auf diesen Umstand macht Max Weber an zentraler Stelle seines Werkes aufmerksam, wenn er den Übergang von traditionellen ‚bedarfsdeckenden‘ zu an Profitchancen orientierten kapitalistischen Wirtschaftsweisen identifiziert. Eine fundamentale Konsequenz des Rationalisierungsprozesses scheint es zu sein, dass sich moderne Ordnungen nur dynamisch zu stabilisieren vermögen, d.h., dass sie sich nur durch fortwährende Steigerung (in Form von Wachstum, Beschleunigung und Innovation) reproduzieren und erhalten können. Das Verhältnis von Ordnung und Wandel ist eng verknüpft mit den Mustern der Zeiterfahrung und -gestaltung.
Die Bedeutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Sequenzierung und Terminierung von Prozessketten, die Ausbildung von Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten, die Synchronisation (und Desynchronisation) institutioneller (und natürlicher) Eigenzeiten hängen eng mit der Art und Weise zusammen, wie soziale Ordnungen Stabilität trotz, gegen oder durch Wandel gewinnen. Ebenso spielen in einer globalisierten Welt die Erfahrung der Verflechtung von Räumen durch Wirtschaftsbeziehungen, Ideen- und Institutionentransfer sowie Herrschaftsbeziehungen eine große Rolle für die Formierung von „Weltbeziehungen“. Das Max-Weber-Kolleg macht sich daher die empirische Analyse und kulturwissenschaftliche Deutung von Raum- und Zeitstrukturen im Blick auf das Verhältnis von Ordnung, Wandel und Dynamik zur Aufgabe.
Religion als Innovation
Gesellschaftlicher Wandel stellt eine Herausforderung für die Deutungs- und Steuerungsmacht Religion dar. Zahlreiche Zeitdiagnosen gehen der Frage nach, wie gesellschaftlicher Wandel Religion verändert. Mit Max Weber gilt es aber, diese Perspektive auch umzukehren, und die Folgen religiöser Praktiken und Überzeugungen und ihrer Bedeutung für Weltverhältnisse und gesellschaftlichen Wandel zu untersuchen.
Religion ist dabei nichts Statisches, sondern unterliegt selbst historischer Veränderung. Mehr noch, die mit dem Begriff „Religion“ vergleichbar gemachten Phänomen-Zusammenhänge erscheinen in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Konstellationen und weiträumigen kulturellen Kontakten als Innovation. Der Frage nach weltweiten Veränderungen von Religion in sich ändernden Gesellschaften seit den antiken Hochkulturen wie nach Veränderungswiderständen und Verfestigungen geht das Max-Weber-Kolleg in Projekten zu Fragen nach religiöser Individualisierung, gelebter Religion und ritueller Resonanz, nach Religion in neuzeitlichen Umbruchs- und Modernisierungsprozessen, nach Mobilisierungen und deren systematischen (etwa bei Kierkegaard) wie historiographischen Reflexion nach.