Dr. Hannah Peaceman

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Dr. Hannah Peaceman ist derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig. Darüber hinaus ist sie Geschäftsführerin des Koselleck Projekts "Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in Werken der klassischen Deutschen Philosophie?".

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Forschungsprojekt Dissertation

Dissertation (abgeschlossen am MWK, im Erscheinen, Klostermann 2021):
Die Dialektik der Emanzipation. Das Potential jüdischer Perspektiven für die politische Philosophie der Gegenwart am Beispiel des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden

Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Irritation über die Abwesenheit und Unsichtbarkeit jüdischer Perspektiven in der politischen Philosophie der Gegenwart. Ziel ist erstens, Gründe für die Abwesenheit jüdischer Perspektiven in der politischen Philosophie zu benennen. Das zweite Ziel ist, die jüdischen Perspektiven in der gegenwärtigen politischen Philosophie erneuert anwesend zu machen.

Die Arbeit besteht neben einer längeren Einleitung und einem ausgebauten Fazit aus drei großen Kapiteln: Im ersten Kapitel werden die politischen Philosophien von Jürgen Habermas und Chantal Mouffe und ihre Bezüge auf jüdische Perspektiven exemplarisch untersucht. Habermas und Mouffe repräsentieren widerstreitende Paradigmen der politischen Philosophie in Bezug auf die Aufklärung und die Moderne und sind ausgewählt worden, um das Spektrum gegenwärtiger politischer Philosophie abzubilden. Obwohl die beiden untersuchten politischen Philosophien unterschiedliche Herangehensweisen repräsentieren, besteht eine Ähnlichkeit darin, wie der Begriff „jüdisch“ in ihren Theorien verwendet wird. Er taucht nur in der Begriffskonstruktion der jüdisch-christlichen Tradition auf. Die jüdisch-christliche Tradition steht bei Habermas und bei Mouffe für die europäische Aufklärung und Moderne. Der Begriff der jüdisch-christlichen Tradition dient jeweils als grundlegende, aber unhinterfragte Prämisse, von der aus beide Denker*innen ihre Grundbegriffe entwickeln.

Das Ergebnis meiner Untersuchung ist, dass der Begriff der jüdisch-christlichen Tradition als unreflektierte Prämisse in gleicher Weise in beide, auf den ersten Blick als antagonistisch erscheinende, Ansätze politischer Philosophie eingeht. Zweitens ziehe ich den Schluss, dass sich die Frage nach jüdischen Perspektiven in der politischen Philosophie nicht theorieintern beantworten lässt. Die Vermutung liegt nahe, dass der Mangel an historischen und systematischen Reflexionen des Begriffs der jüdisch-christlichen Tradition zur Unsichtbarmachung jüdischer Perspektiven beiträgt und damit zu ihrer Abwesenheit.

Im zweiten Kapitel wird die Genese des Begriffs der jüdisch-christlichen Tradition rekonstruiert. Dabei zeigt sich vor allem, dass mit der vermeintlichen Synthesis oftmals negativ auf das Judentum Bezug genommen wurde. Im philosophischen Rekurs auf die jüdisch-christliche Tradition, der den Begriff als widerspruchsfreie Synthese übernimmt, bleibt unreflektiert, inwiefern die Ausgrenzungsgeschichte von Jüd*innen einerseits und ihre Emanzipationsgeschichte andererseits die europäisch-christliche Aufklärung und Moderne und damit auch die Herausbildung philosophischer Begriffe und Argumente prägten.

Ich schließe aus der Analyse der Begriffsgeschichte, dass über den Begriff der jüdisch-christlichen Tradition keine positiven Erkenntnisse über die Bedeutung des Jüdischen in der politischen Philosophie gewonnen werden können. Zugespitzt formuliert verhindert eine Bezugnahme auf den Begriff der jüdisch-christlichen Tradition sogar die Anwesenheit jüdischer Perspektiven.

Da Erkenntnisse über jüdische Perspektiven nicht über die politischen Philosophien der Gegenwart und den Begriff der jüdisch-christlichen Tradition gewonnen werden können, plädiere ich im dritten Kapitel für einen Perspektivwechsel. Es bedarf der expliziten Beschäftigung mit jüdischen Denker*innen und ihren philosophischen Überlegungen, um die Frage nach der Bedeutung ihrer Perspektiven für politisches Philosophieren neu zu untersuchen. Dazu ist exemplarisch die Philosophie der Mitglieder des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden ausgewählt worden, der 1819 in der Folge der antisemitischen Hep-Hep-Krawalle gegründet wurde und als Begründungszusammenhang der Wissenschaft des Judentums (der heutigen Jüdischen Studien) gelten kann. Dieser Perspektivwechsel ermöglicht auf ein philosophisches Denken zuzugreifen, das institutionell wie diskursiv im 19. Jahrhundert ausgegrenzt wurde.

Das Denken der Culturvereinler birgt meiner Interpretation zufolge ein besonderes Potential: Denn die Culturvereinler strebten an, das Judentum gerade mittels seiner Partikularität in die nichtjüdische Umwelt zu integrieren. Sie wollten das universalistische Potential jüdischer Perspektiven und Traditionen herausarbeiten. Aus jüdischen Perspektiven und Traditionen heraus entwickelten sie eine Erkenntnis- und Gesellschaftskritik, die zugleich auf innerjüdische und gesamtgesellschaftliche Emanzipation zielte und auf deren dialektischen Zusammenhang verwies. Dafür rekurrierten sie auf Hegels Dialektik und auf Spinozas Substanzbegriff. Sie nahmen Hegels Denken in Widersprüchen auf, kritisierten aber seinen dem Judentum zugewiesenen Platz in der Weltgeschichte. Spinozas Substanzbegriff diente ihnen als Ausgangspunkt für ein säkularisiertes Verständnis der geoffenbarten Uridee der Einheit. Auf dieser Grundlage entfalteten die Culturvereinler dialektisch die Idee der Einheit der Vielheit im Ganzen. Diese Idee sollte als Grundlage für ein gleichberechtigtes Zusammenleben in Vielheit dienen. Das Potential lag in der Beziehung unterschiedlicher, auch widersprüchlicher, Momente zueinander im Ganzen. Der Begriff der Einheit der Vielheit im Ganzen ermöglichte, von einem geteilten Ganzen auszugehen, in dem sich unterschiedliche Gruppen in Bezug zueinander entwickeln konnten, ohne ihre Differenzen gänzlich aufgeben zu müssen oder sich einer dominanten Gruppe unterordnen zu müssen.

Wie können diese, zunächst disparat erscheinenden, gewonnenen Erkenntnisse miteinander vermittelt werden?

Mein Rückschluss aus den Analysen der drei Hauptkapitel ist, dass die zuvor behandelten politischen Theorien von Jürgen Habermas und Chantal Mouffe durch den Einbezug jüdischer Perspektiven sowohl in ihren grundsätzlichen Prämissen als auch in ihrem Aufbau radikal infrage gestellt werden müssen. Die ursprünglich jüdische Idee der Einheit der Vielheit im Ganzen bietet eine produktiv-kritische Alternative zum verklärenden Begriff der jüdisch-christlichen Tradition. Denn das jüdisch-christliche Verhältnis war nie widerspruchsfrei – im Gegenteil. 

Diese Widersprüche können durch die von den Culturvereinler*innen entwickelte reflexive Idee der Einheit der Vielheit im Ganzen aufgehoben werden, ohne die Brüche zu negieren. Ein politisch-philosophisches Denken mit Bezug zur Einheit der Vielheit im Ganzen entfaltet eine vermittelte Selbstkritik und Gesellschaftskritik. Ziel ist die Vermittlung vermeintlich partikularer und universeller Perspektiven – durch die Emanzipation innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe und gesamtgesellschaftliche Emanzipation Hand in Hand ermöglicht werden.

Abschließend schlage ich vier Aspekten eines Weiterdenkens vor, die aus den vorangegangenen Überlegungen gewonnen wurden. Sie führen über eine Kritik am Status quo der politischen Philosophie und der Abwesenheit jüdischer Perspektiven in ihr, zu einem emanzipatorischen politischen Philosophieren: als eine Erkenntnis- und Gesellschaftskritik, die sich aus der erneuerten Anwesenheit jüdischer Perspektiven speist, und zugleich über identitätsbezogene Zuschreibungen hinausweist.

Erstens schlage ich vor, in Brüchen zu denken, statt von der Linearität von philosophischen Argumenten auszugehen. Zweitens plädiere ich dafür, dass die Denker*in ihr Erkenntnisinteresse sichtbar und so der Reflexion zugänglich macht. Drittens argumentiere ich dafür, lieber von politischem Philosophieren als prozessualer Praxis zu sprechen, statt von politischer Philosophie als abgegrenzter Disziplin auszugehen. Schließlich schlage ich viertens vor, nicht nach einem Kanon oder einer Traditionslinie in der Philosophie zu suchen, sondern sich ein Archiv des Denkens anzueignen. Diese Untersuchung ist ein Archiv kritisch-jüdischen Denkens, das sich ausgehend von dem Interesse, jüdische Perspektiven in der Gegenwart erneuert anwesend zu machen, geformt hat.