Kolleg-Forschergruppe: "Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive" gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

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Die Kolleg-Forschergruppe will Individualisierungen im Medium der Religion und deren Folgen für die Veränderung von Religion, also in ihrer religionsgeschichtlichen Dynamik, untersuchen. Dabei fragt sie insbesondere nach der Existenz und dem Umfang individueller Spielräume religiösen Handelns, der daraus resultierenden Gestaltung religiöser Traditionen und religiösen Reflexionen auf Individualität vor und außerhalb der okzidentalen Moderne wie in der Phase moderner Theoriebildung. Pauschale Theorien über Individualisierung und entsprechende universalgeschichtliche Konstruktionen sollen so durch die Frage nach den Bedingungen und Formen von Individualisierungsschüben wie -verlusten und nach der Tradition und Diffusion von religiösen Individualitätskonzepten ersetzt werden. Im Austausch historischer und systematischer Disziplinen werden so zugleich neue Quellen für die Religionsgeschichte erschlossen wie Paradigmen für die Beschreibung von Religionen, religiöser Erfahrung und religiösem Wandel überprüft und verändert.

Gefördert durch

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2. Förderperiode (2013-2017, Leitung: Prof. Dr. Martin Mulsow, Prof. Dr. Jörg Rüpke)

Zusammenfassung der 1. Förderperiode:

Die Kolleg-Forschergruppe (KFG) hat in der ersten Förderperiode (Joas/Rüpke) Individuali­sierungsprozesse im Medium der Religion in ihrer historischen Dynamik und mit Blick auf deren Folgen für den Wandel von Religion untersucht und die leitende Hypothese der Ableh­nung einer pauschalen systematischen Verknüpfung von religiöser Individualisie­rung mit Modernisierung bestätigt. Für die zweite Förderperiode (Mulsow/Rüpke) sollen davon aus­gehend vier Hypothesen im Zentrum stehen: (1) Da gezeigt werden konnte, dass religiöse Individualisierung sich nicht auf Phänomene der europäischen „Moderne“ beschränkt, eignet sie sich als eine heuristische Kategorie, um religionshistorische Prozesse in unterschied­lichsten Kulturen zu untersuchen. (2) Diese Individualisierungsprozesse sind weniger als isolierte Errungenschaf­ten, denn als Rekombinationen von verfügbaren religiösen Erfahrun­gen, Traditionen und Dis­kur­sen zu verstehen. Daher muss eine individualisierungsgeschicht­liche auch eine verflech­tungs­geschicht­liche Untersuchung sein, die auf Grenzüberschreitun­gen auf unterschied­li­chen Ebe­nen rekurriert. (3) Insofern religiöse Individualisierungspro­zesse eng mit Institu­tio­na­lisierung und Tradi­tions­bildung verbunden sind, sind diese Wech­selwir­kun­gen systematisch zu berücksichtigen. Individua­li­sierung und De-Individualisierung greifen immer in­ein­ander. Daher können in diesem Kontext auch Prozesse etwa von Kanoni­sierung, Tradi­tio­nalisierung oder die Bildung von Fundamentalis­men untersucht werden. (4) Theo­rie­ge­schich­tlich hat der Individualisierungs­be­griff als euro­zen­trische Ausgrenzungs­strategie gedient. Analog verab­so­lu­tierte häufig der Religionsbegriff das Kollektive. In Aus­einan­der­set­zung mit der Wissen­schaftsgeschichte kann ein Religions­be­griff entwickelt wer­den, der es erlaubt, Religion individualisierungs- und verflechtungs­geschichtlich – unter Vermeidung eurozentrischer Kurzschlüsse – zu rekonstruieren. Diese Hypothesen sollen durch die Bearbeitung der folgenden Arbeitsfelder untersucht wer­den: (I) die interaktionsfokussierte Untersu­chung religiöser Individua­lisierungsprozesse mit einem Blick auf (a) historische Akteure und (b) strukturelle Austausch- und Verflechtungsbe­ziehungen über kulturelle und vor allem religiöse „Grenzen“ hinweg; (II) langfristige Wirkun­gen von religiösen Individualisierungsprozessen angesichts „de-individualisierender“ Gegen­kräfte und Gegenstrategien, und (III) die Erarbeitung neuer Beschreibungs- und Analysebe­griffe und Kategorien als Ergebnis einer Reflexion in religions- und theologie­geschichtlicher Perspektive.

 

Projektantrag 2. Förderperiode (pdf)

Wichtigste Publikationen der Kolleg-Forschergruppe

  • Robert N. Bellah und Hans Joas (Hg.), The Axial Age and Its Consequences, Cambridge: Harvard University Press 2012.
  • Hermann Deuser und Saskia Wendel (Hg.), Dialektik der Freiheit. Religiöse Individualisierung und theologische Dogmatik, Tübingen: Mohr Siebeck 2012.
  • Martin Fuchs, »Diskontinuierliche Prozesse. Die transformative Kraft der Übersetzung«, in: Christian Alvarado Leyton und Philipp Erchinger (Hg.), Identität und Unterschied. Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz, Bielefeld: transcript 2010, 113–131.
  • Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin: Suhrkamp 2011.
  • Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg: Herder 2012.
  • Hans Joas, José Casanova et al., Religion und die umstrittene Moderne, Stuttgart: Kohlhammer 2010.
  • Hans Joas und Andreas Pettenkofer (Hg.), Special Issue: Review Symposium on Hugh McLeod, The Religious Crisis of the 1960s, Journal of Religion in Europe 5.3 (2012).
  • Dagmar Gottschall, Yoshiki Koda und Dietmar Mieth (Hg.), Meister Eckharts »Reden an die Stadt« (Jahrbuch der Meister-Eckhart-Gesellschaft 6), Stuttgart: Kohlhammer 2012.
  • Britta Müller-Schauenburg und Dietmar Mieth (Hg.), Mystik, Recht und Freiheit, Stuttgart: Kohlhammer 2012.
  • Martin Mulsow, Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin: Suhrkamp 2012.
  • Kalpana Ram, Fertile Disorder. Spirit Possession in the Lives of Rural Tamil Women and the Limitations of Modern Subjectivity, Hawaii: University of Hawaii Press 2013.
  • Eric Rebillard, Christians and Their Many Identities, North Africa AD 200–450, Ithaca: Cornell University Press 2012.
  • Jörg Rüpke, Religion in Republican Rome. Rationalization and Ritual Change, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2012.
  • Jörg Rüpke, Aberglauben oder Individualität. Religiöse Abweichung im römischen Reich, Tübingen: Mohr Siebeck 2011.
  • Jörg Rüpke, »Starting Sacrifice in the Beyond. Flavian Innovations in the Concept of Priesthood and Their Repercussions in the Treatise ›To the Hebrews‹«, Revue d’histoire des religions 229 (2012), 5–30.
  • Magnus Schlette, Die Idee der Selbstverwirklichung. Zur Grammatik des modernen Individualismus, Frankfurt am Main: Campus 2013.
  • Magnus Schlette und Gerald Hartung (Hg.), Religiosität und intellektuelle Redlichkeit, Tübingen: Mohr Siebeck 2012.
  • Thomas Schmidt und Tobias Müller, Ich denke, also bin ich Ich? Das Selbst zwischen Neurobiologie, Philosophie und Religion, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011.
  • Wolfgang Spickermann und Jörg Rüpke (Hg.), Religious Individuality. Forms, Contexts, Media Reflections on Religious Individuality: Greco-Roman and Judaeo-Christian Texts and Practices (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 62), Berlin und New York: de Gruyter 2012.
  • Wolfgang Spickermann (Hg. in Verbindung mit Leif Scheuermann), Keltische Götternamen als individuelle Option? Akten des 11. internationalen Workshops »Fontes Epigraphici Religionum Celticarum Antiquarum« (Osnabrücker Forschungen zu Altertum und Antike-Rezeption 18), Rahden/Westfalen 2013.

Rund 4,4 Millionen Euro für die Religionsforschung:Pressemitteilung Nr.: 145/2013 - 30.10.2013

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) wird die am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt ansässige Kolleg-Forschergruppe „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“ nach Ablauf der ersten Förderperiode nun bis Ende September 2017 weiter fördern. Dies teilte die DFG jetzt in einem Schreiben an die Hochschule mit. Im Rahmen der Förderung im Umfang von insgesamt 4.398.632 Euro werden Mittel für eine Professur, Fellows, die Teilvertretung der Antragsteller, projektspezifische Workshops, Mittel für weitere Mitarbeiter sowie für Öffentlichkeitsarbeit bzw. Publikationen zur Verfügung gestellt.

„Das ist eine wunderbare Nachricht für die Kolleg-Forschergruppe“, freut sich Prof. Dr. Jörg Rüpke, der zusammen mit Prof. Dr. Martin Mulsow den Antrag gestellt hatte. „Dass unsere Arbeit für weitere 48 Monate gefördert wird, gibt uns die Möglichkeit, noch tiefer in die Thematik einzusteigen.“ Und Universitätspräsident Prof. Dr. Kai Brodersen ergänzt: „Die erneute Förderung ist nicht zuletzt auch ein Zeichen dafür, dass die Forschung im Schwerpunkt Religion der Universität Erfurt weit über die Region hinaus Beachtung und Anerkennung findet“.

Die Kolleg-Forschergruppe hatte in der ersten Förderperiode religiöse Individualisierungsprozesse in ihrer historischen Dynamik und mit Blick auf deren Folgen für den Wandel von Religion untersucht. Dabei konnte die leitende Hypothese der Ablehnung einer pauschalen systematischen Verknüpfung von religiöser Individualisierung mit Modernisierung bestätigt werden. In der zweiten Förderperiode werden sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun davon ausgehend auf drei Felder konzentrieren: historische Fälle religiöser Individualisierung, auf deren Basis die Forschergruppe eine Typologie religiöser Individualisierung versuchen wird, sowie verflechtungsgeschichtliche Analysen von Individualisierungsprozessen, etwa zwischen Europa und Indien unter anderem über die Brücke Islam, vor allem in der frühen Neuzeit. Darüber hinaus wollen die Forscherinnen und Forscher intensiver nach der Religionsgeschichtsschreibung selbst fragen, z.B. wie Vorstellungen von (fehlender) Individualisierung den Religionsbegriff in der Religionsgeschichtsschreibung der Frühen Neuzeit und Moderne beeinflusst haben.

Weitere Informationen / Kontakt:

Diana Püschel