Dietmar Mieth: Mystik als Selbstzurücknahme bei Meister Eckhart und Marguerite Porète
Zum Auftakt des Meisterkurses hielt Dietmar Mieth einen öffentlichen Abendvortrag in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche über „Mystik als Selbstzurücknahme bei Meister Eckhart und Marguerite Porète“. In der Kapelle kamen die Teilnehmer*innen des Kurses sowie weitere interessierte Zuhörer*innen zusammen, um den Ausführungen Mieths zu lauschen, der Eckhart und Porète als Geistesverwandte vorstellte: Statt um moralischen Aktivismus geht es beiden darum, die richtige Art von Passivität und Gelassenheit zu entwickeln. Dazu müsse man das eigene Ego in seinem Geltungs- und Tatendrang zurücknehmen, um so frei für das Wirken Gottes zu werden. Porète, die in ihrem „Spiegel der einfachen Seelen“ sogar von der Selbstvernichtung, der „Annihilation“ der Seele spricht, sei dabei besonders radikal. Mieth, der einen Roman über das Schicksal Porètes verfasst hat, versteht es an diesem Abend auch, die biographischen und zeithistorischen Hintergründe geschickt in seinen Vortrag einzuflechten: Porète gerät wie Eckhart ins Visier der Inquisition; die Reaktionen der beiden auf diese Bedrohung fallen jedoch unterschiedlich aus: Während Eckhart kooperiert, verweigert sich Porète total, woraufhin sie am 1. Juni 1310 als hartnäckige Ketzerin in Paris bei lebendigem Leib auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird.
Die Praxistauglichkeit dieser beiden schwer zugänglichen Mystiker des Mittelalters in Zeiten des „Spiritual Care“ zeigt sich in der abschließenden Diskussion: Eckhart und Porète folgen der Annahme, dass es nicht auf den Nutzen unseres Handelns ankommt, sondern auf die Quelle, woraus sich dieses speist. Eine geistige Abkehr vom instrumentellen Denken in Zweckmäßig- und Machbarkeiten könnte den größten Nutzen mit sich bringen – ganz gleich, ob es nun um Umweltschutz oder die Pflege kranker Menschen ginge.
Freimut Löser: Die vielen Varianten der geistlichen Armut
Freimut Löser, Präsident der Meister Eckhart Gesellschaft und Mitglied der Erfurter Forschungsstelle, stellte insbesondere die auffälligen und wörtlichen Beziehungen zwischen Meister Eckhart und Marguerite Porète im Bereich Ihrer Armutslehre in den Mittelpunkt ("das ist ein armer Mensch, der nichts will, nichts weiß und nichts hat"). Er analysierte in mehreren Einzelstunden über den Tag hinweg die Armutslehre, stellte sie in die Zusammenhänge mittelalterlicher Armut als sozialer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erscheinung, verglich sie mit der Armutsbewegung der Zeit Eckharts und Porètes, insbesondere bei Waldensern und Franziskanern. Seine Textanalysen galten dem Prolog und einigen Kapiteln aus Porètes Buch, in denen ihre hohe literarische Bildung ebenso gezeigt werden konnte wie eine bewusste anti-intellektuelle und anti-akademische Haltung, die sie zwar von Eckhart zunächst einmal unterscheidet, von der sich aber auch bei genauem Hinsehen bestimmte Spuren bei Eckhart finden lassen. Als Höhepunkt stellte er in zwei eigenen Einheiten von ihm entdeckte deutschsprachige Eckhart-Predigten vor, die Eckharts Armutslehre in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen. Das ausgesprochen rege Publikumsinteresse konzentrierte sich stark auf das historische Umfeld, in dem Eckhart und Porète zu verorten sind, auf Porètes unerwartete literarische Könnerschaft und deren Quellen, auf die neuen Aspekte an Eckharts Armutslehre und ganz besonders auf deren Aufnahme und ihr Fortwirken bei seinem Publikum.
Markus Vinzent: Eckhart und Marguerite Porète rücken näher zusammen in neu zu edierenden Texten Meister Eckharts
Markus Vinzent, Vizepräsident der Meister Eckhart Gesellschaft und Leiter der Eckhart Forschungsstelle am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt, befasste sich mit den Handschriftenbeständen, insbesondere der Staatsbibliothek Berlin, und stellte noch ungehobene Handschriftenschätze vor, die die besondere Nähe Meister Eckharts zu Marguerite Porète dokumentieren. Gerade solche Predigten sind bislang kaum in der großen kritischen Ausgabe von Eckharts Deutschen Werken vertreten, und wenn, werden sie von dem Herausgeber Eckhart abgesprochen (etwa die letzte, in der Eckhart Werkausgabe gedruckte Predigt vom "Reich Gottes", S 117). Als Beispiel wurde der Predigtzyklus vorgestellt, der in der Berliner Handschrift Ms. germ. qu. 1084 (= B6) vorliegt, die aus der Zeit um 1400 stammt. In dieser Handschrift stehen gleich zu Anfang, nach einem einleitenden Traktat, 11 Predigten, die eng zusammengehören. Nicht erst, wer die Handschrift zusammengestellt hat, fügte diese Predigten zusammen, sondern sie verweisen mehrfach aufeinander, und haben eine Fülle von Parallelen und Verweisen auf die gerade genannte Predigt vom "Reich Gottes". Da aus dieser Serie bislang vier zentrale Predigten (also fast die Hälfte) nicht kritisch ediert (und auch nicht übersetzt) sind, ist dieser Zyklus, der die göttliche Transformation des Menschen behandelt, bislang der Leserschaft entgangen. Außerdem stützt er die Autorschaft der "Reich Gottes"-Predigt und belegt, wie eng verwandt das theologische Denken Meister Eckharts mit Marguerite Porète ist. An einem anderen Beispiel wurden schließlich weitere Parallelen und Unterschiede zwischen Porète und Eckhart anhand der Vorstellung von den "drei Toden" dargelegt: Der Mensch müsse in seiner Leiblichkeit, seiner Geistigkeit, aber auch in seiner Spiritualität sterben, um gänzlich transformiert zu werden.