Zwischen Identitätssuche, Flucht und Glauben. Frauen in der Orthodoxie – ein Blick auf die aktuelle Situation in der Ukraine und Russland

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Nahaufnahme der Figuren am Jungfrauenportal des Erfurter Doms und darübergelegt der Veranstaltungstitel "Frauen der Kirche - Kirche der Frauen"

von Luise Lehmann

Zum dritten Mal veranstalten die Frauenförderung und Gleichstellung der Katholisch-Theologischen Fakultät und die Professur für Exegese und Theologie des Neuen Testaments in diesem Sommersemester die Online-Veranstaltungsreihe „Frauen der Kirche – Kirche der Frauen“. Am 24.05.2022 gab Dr. Regina Elsner mit ihrem Impulsvortrag zum Thema „Frauen in der Orthodoxie – ein Blick auf die aktuelle Situation in der Ukraine und Russland“ spannende Einblicke in die Rolle von Frauen in den orthodoxen Kirchen und die Möglichkeit für Fragen und Diskussionen. Mit ihr als Referentin stand den Teilnehmenden eine ausgewiesene Expertin zum Gespräch zur Verfügung, die sich schon in ihrer Promotion mit Spannungsfeldern in den Orthodoxen Kirche beschäftigte und seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) ist. Auch in der aktuellen Kriegssituation ist sie in Fernsehen, Rundfunk und anderen Medien als Expertin für theologische Fragen und Einordnungen präsent.

Frauen – Orthodoxie – Krieg: Ein mehr als abendfüllendes Thema

Gleich zu Beginn machte Regina Elsner deutlich: Sowohl das Thema Frauen in der Orthodoxie als auch Frauen im Krieg könnte Bücher füllen. Im Verlauf des Abends gelang es ihr dennoch spannende Einblicke in beide Themen zu geben, die dazu anregten, sich im Nachgang selbst noch mehr damit auseinanderzusetzen.

Sie zeigte auf, dass in Deutschland oft ein sehr stereotypes Bild von Frauen in der Orthodoxie vorherrscht, bei welchem die Vielfalt der Orthodoxie und die unterschiedlichen Rollen von Frauen in den orthodoxen Kirchen keine Beachtung erfahren und auch die historischen Hintergründe der Frauenrolle keine Rolle spielen.

Um dieses stereotype Bild aufzubrechen verdeutlichte Regina Elsner, dass das Frauenbild in der orthodoxen Theologie in sehr unterschiedlichen Kontexten thematisiert wird. In der Anthropologie spielt zwar, wie auch in der römisch-katholischen Tradition, die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und die Komplementarität von Mann und Frau eine große Rolle, doch wird diese anders akzentuiert, sodass die Stellung der Frau und ihre religiöse Erfahrung eine überraschend positive Würdigung erfahren könne. Aktuell diskutiert werden in den orthodoxen Kirchen die Rolle und Stellung der Frau insbesondere in Diskussionen zur Sozialethik. Aufgrund der Vielfalt der orthodoxen Kirchen ist es jedoch nur bedingt möglich, auch aus offiziellen kirchlichen Dokumenten eine für die Orthodoxie insgesamt geltende Meinung anzugeben.

Sonderfall Osteuropa

Gleichzeitig scheint innerhalb der orthodoxen Kirchen Osteuropa einen Sonderfall darzustellen. Dafür gibt es historische Gründe, stellte Regine Elsner klar. Eine besondere Rolle spiele dabei das „sowjetisches Erbe“, hinter dem sich folgendes verbirgt:

  • die Bewahrung des Glaubens durch Frauen in der staatlichen Unterdrückung, insbesondere durch heimliche Taufen ihrer Kinder oder das Vorlesen aus der Bibel,
  • ein religiöser Feminismus, der sich in Auseinandersetzung mit dem Menschenbild des Sozialismus und seiner Vorstellung von „Gleichberechtigung“ entwickelt hat und der sich grundlegend von einem westlichen religiösen Feminismus unterscheidet, weil er den Willen zu mehr Weiblichkeit und Übernahme der traditionellen Mutterrolle betont, die den Frauen im Sozialismus weitgehend verwehrt war,
  • die Opferbereitschaft der Frauen in einer Situation, in der ihre Männer in den Krieg gezogen waren, 
  • die postsowjetische Identitätssuche.

Besonders bei der postsowjetischen Identitätssuche zeigt sich aber eine große Verschiedenheit zwischen der Ukraine und Russland. Während Russland traditionelle, kinderreiche Familien fördert, Proteste wie die Aktion von „Pussy Riot“ gemeinsam von Kirche und Staat verurteilt werden und im Jahr 2020 die Ehe in der Verfassung als Bund von Mann und Frau festgeschrieben wurde, bewegte sich in der Ukraine die Sicht auf Frau und Familie immer deutlicher in Richtung Europa und Westen, eine Entwicklung, die insbesondere durch den Euromaidan 2013/14, die Annexion der Krim 2014 und durch den aktuellen Angriffskrieg Russlands noch weiter vorangetrieben wurde und wird.

Wo sind die Frauen in diesem Krieg?

Auf ukrainischer Seite findet man Frauen auf der Flucht, an der Front, als Opfer sexualisierter Gewalt, als Helferinnen (Kinderbetreuung, medizinische Versorgung, …), aber auch als Soldatinnen in Kampfeinsätzen. In Russland erscheinen Frauen in exponierter Rolle als Soldatenmütter, bei zivilen Protesten gegen den Krieg oder als Helferinnen für Flüchtende in Klöstern und Gemeinden. Eine besondere Rolle kommt in Russland und der Ukraine den Ehefrauen der orthodoxen Priester zu, die im Leben der Gemeinden traditionell wichtige Funktionen übernehmen. Auch im Krieg prägen sie das sozial-caritative Leben der Gemeinden; die notwendige Rücksicht auf ihre Frauen und Kinder bestimmt aber auch auf vielfältige Weise das Verhalten der Priester in diesem Krieg.

Die Rolle der Priesterfrauen war für die Teilnehmenden des Abends besonders interessant, denn eine solche Rolle von Frauen findet sich in der römisch-katholischen Kirche in der Regel nicht. So kamen in der Fragerunde gleich mehrere Fragen zur Bedeutung und Rolle der Priesterfrauen auf, die Regina Elsner ausführlich beantwortete.

Marienikonen und Waffengewalt

Auch die Macht der Sprache und die Macht von Bildern in diesem Krieg thematisierte Regina Elsner und illustrierte dies an der Rolle und Verehrung der Gottesmutter Maria in den orthodoxen Kirchen. Aufgrund der besonderen Bedeutung der Gottesmutter in der orthodoxen Frömmigkeit war es für viele gläubige orthodoxe Christinnen und Christen außerhalb Russlands und insbesondere in der Ukraine irritierend und empörend, als Patriarch Kyrill I. von Moskau am 13. März 2022 den Kämpfern der russischen Nationalgarde eine Ikone der Gottesmutter überreichte, um ihnen den Segen und Beistand der Gottesmutter im Krieg gegen die Ukraine zuzusprechen.

In der Ukraine entstanden als Reaktion auf die Erfahrung dieses Krieges neue, an traditionelle Ikonen angelehnte Marien-Bilder, auf denen die Gottesmutter als Beistand der von Russland angegriffenen und bedrohten Ukrainerinnen und Ukrainer erscheint. Auf diesen Bildern trägt die Gottesmutter beispielsweise statt des Jesuskindes Waffen auf ihren Armen oder sie erscheint als Reaktion auf die traumatische Erfahrung des Terrors der russischen Angriffe auf Mariupol und andere Städte als Schutzfrau im Bombenhagel. Für die Teilnehmenden bringt Regina Elsner hier eine wichtige Einordnung an: Auch wenn solche Darstellungen auf uns überaus befremdlich wirken, zeigen sie, wie wichtig in diesem Krieg das Bild der starken Maria, der starken Frau, für die Menschen der Ukraine, besonders für Frauen mit orthodoxem Hintergrund, ist.

Erhellender Austausch

Nach diesen vielen Inputs gab es die Möglichkeit, Fragen an Regina Elsner zu stellen. Neben Fragen zum Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche auf Entwicklungen im Bereich von LGBTQIA+ und Gender im heutigen Russland, ging es auch um die aktuellen Entwicklungen in der Sozialethik der russisch‑orthodoxen Kirche und um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen westlichen Vorstellungen und orthodoxen Frauenbildern. Dabei wurde noch einmal deutlich, dass Rolle und Bild der Frau in der Orthodoxie vielfältiger sind, als dies im Westen mit seinen oft einseitigen und stereotypen Vorstellungen über die Frau in der orthodoxen Theologie und Kirche gewöhnlich wahrgenommen wird.

Es war ein unglaublich spannender und informativer Abend, der über den eigenen Tellerrand hinausschauen ließ und eine weitere Perspektive auf den aktuellen Krieg und seine Hintergründe und Auswirkungen gegeben hat. Regina Elsner sei deshalb herzlich dafür gedankt, dass sie sich die Zeit für diesen Abend genommen und sich allen Fragen gestellt hat.

Weitere Veranstaltungsberichte zur Reihe „Frauen der Kirche – Kirche der Frauen“ finden Sie in diesem Blog unter der Rubrik "Veranstaltungen". Informationen rund um das Thema Gleichstellung sind auf der Seite der Frauenförderung verfügbar. 

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