"Jeder kann in eine Notlage geraten" – Plädoyer für die Widerspruchsregelung bei Organspenden

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Die Deutschen spenden nur ungern ihre Organe. Von einer Million stellen sich hierzulande nur knapp 10 Menschen der Medizin zur Verfügung – zu wenige für die 10.000 Patient*innen auf den Wartelisten. Dem will Gesundheitsminister Jens Spahn mit seinem Entwurf zur Widerspruchslösung entgegenwirken. Die Deutsche Bischofskonferenz sowie das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken kritisieren die Idee als “moralische Verpflichtung”. Adrian Magnucki, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Sozialethik an der Universität Erfurt und selbst Organempfänger, plädiert für den Vorschlag. Nur so ließen sich die Potentiale der Organspende optimal nutzen.

Kommentar von Adrian Magnucki, Mag. theol.

In Deutschland stehen tausende Schwerkranke auf den Wartelisten für die Organvergabe. Es gibt viel mehr Betroffene, die auf eine Niere, ein Herz, eine Lunge oder eine Leber warten als Organe zur Transplantation zur Verfügung stehen. Persönliche Berichte schildern das schwere Leben auf der Warteliste. Statistiken berichten von den Personen, die auf der Warteliste sterben. Eine Transplantation hingegen bedeutet für fast alle Betroffenen, weitere aktive Lebensjahre geschenkt zu bekommen – wie sowohl Biographien als auch Zahlen beweisen.

Da in Deutschland jedoch viel weniger Organe als im europäischen Vergleich gespendet werden, gibt es Handlungsbedarf. Die Zahl der Organspenden in Deutschland sollte erhöht werden, da es für viele Betroffene ein existentielles Anliegen ist und potentiell alle treffen kann. In diesem Zusammenhang muss auch über die Widerspruchsregelung diskutiert werden. Denn die Veränderung des Organspendesystems hin zur Widerspruchsregelung führt bewiesenermaßen zu einer Steigerung der Organspenden. Dieser Zusammenhang wurde durch Studien an anderen europäischen Ländern, die den Systemwechsel zur Widerspruchsregelung bereits vollzogen haben, bestätigt.

Dabei ist allen Beteiligten bewusst: Die Widerspruchsregelung ist kein Allheilmittel, um die Zahl der Organspenden steigen zu lassen. Die Bekämpfung der strukturellen Defizite muss jedoch nicht gegen eine Widerspruchsregelung ausgespielt werden. Beides muss angegangen werden. Der aktuelle Entwurf des Bundesministeriums für Gesundheit beinhaltet hierzu bereits Pläne zur Verbesserung der Strukturen. Beispielsweise wird die Position der Transplantations-Beauftragten gestärkt und ein Refinanzierungskonzept für die Kliniken vorgelegt.

Potentiale der hohen Organspendebereitschaft nutzen

Die derzeit geltende sogenannte “Zustimmungsregelung” ermöglicht zwar die größtmögliche Selbstbestimmung in der Entscheidung über Organspende, nutzt aber das Potential zur Bereitschaft für eine Organspende innerhalb der Gesellschaft nicht aus. Nur ein Bruchteil derjenigen, die bereit sind, ihre Organe zu spenden, besitzen einen Organspendeausweis. Diese Diskrepanz führt zu geringeren Spender*innenraten als möglich wären. Viele sind aus verschiedenen Gründen zu passiv, um ihren Willen schlussendlich im Organspendeausweis auszudrücken. Da der Anteil derjenigen, die der Organspende widersprechen würden, Umfragen zufolge sehr gering ist, würde die Widerspruchsregelung zu mehr Spender*innen führen.

Deswegen ist die Widerspruchsregelung die Möglichkeit, das Potential – unter einer geringen Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts – besser auszuschöpfen. Diese Einschränkung besteht darin, dass jeder Person zugemutet wird, sich bewusst mit der Frage der Organspende auseinanderzusetzen: Wohingegen sich nach der aktuellen Zustimmungsregelung niemand unaufgefordert mit der Thematik beschäftigen braucht, muss im Widerspruchskonzept jede*r Einzelne aktiv für sich entscheiden, ob er oder sie der Organspende widersprechen möchte oder nicht. Dabei wird keinerlei Begründung verlangt. Niemand ist gefordert, weltanschauliche oder religiöse Ansichten offenzulegen. 

Die Selbstbestimmung wird mit der Erneuerung des Systems somit nur minimal beschränkt. Einzig das Recht, sich überhaupt erst gar nicht mit dem Thema “Organspende” beschäftigen zu müssen, wird beschnitten. Dabei ist eine Einschränkung der Selbstbestimmung kein neuer Sonderfall. So gibt es bspw. eine Strafe für unterlassene Hilfeleistung. Hier wird unter weitaus größerer Einschränkung der Selbstbestimmung die Hilfe gegenüber Dritten verpflichtend gemacht.

Wenn die neue Regelung eingeführt werden soll, muss der Gesetzgeber sicherstellen, dass alle Bürger*innen hinreichend informiert sind, was die Regelungen zur Organspende betreffen. Wenn alle wissen, wie eine Erklärung abzugeben ist und welche Folgen ein unterlassener Widerspruch hat, dann ist die Widerspruchsregelung aus ethischer Sicht zu befürworten. Denn es muss abgewogen werden zwischen einerseits der eben beschriebenen geringfügigen Einschränkung der Selbstbestimmung und andererseits der Chance auf Heilung für die Schwerkranken auf der Warteliste. Vor dem Hintergrund des Ziels, das Leid der auf ein Organ Wartenden und ihrer Angehörigen zu verringern, ist diese minimale Beschränkung meines Erachtens nach gerechtfertigt.

Vor Einführung einer Widerspruchsregelung muss in der folgenden Debatte weiter erläutert werden, wie und in welchen Phasen eine solche Gesetzesänderung optimal umgesetzt werden kann. Der Wechsel zur Widerspruchsregelung muss durch intensive Aufklärung sicherstellen, dass sich alle dem neuen Verfahren bewusst sind.

Widerspruchsregelung fordert "definitiv keine Pflicht"

Im Pressebericht der Deutschen Bischofskonferenz steht im Kontext über die Widerspruchsregelung geschrieben: “Eine Pflicht zur Organspende lässt sich nicht begründen.” Und der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, erklärt: “Man kann die Organspende nicht einfach zur rechtlichen und moralischen Pflicht erklären.” Beide lehnen die Widerspruchsregelung ab.

Eine Pflicht zur Organspende ist ethisch nicht begründbar. Das ist richtig. Doch der Rückschluss von der Widerspruchsregelung auf die Pflicht zur Organspende ist falsch. Die Widerspruchsregelung fordert keine Pflicht zur Organspende ein. Würde “Pflicht” so verstanden werden, wie das Verhältnis von Widerspruchsregelung zur Organspende es angibt, dann könnte eine steuerpflichtige Person der Steuerabgabe ohne Angaben von Gründen widersprechen und die Steuern einfach nicht zahlen. Doch das wäre offensichtlich eine falsche Vorstellung von Pflicht. Die Widerspruchsregelung führt eben zu keiner Pflicht zur Organspende, sondern zu einer Aufforderung, sich mit dem Thema “Organspende” bewusst auseinanderzusetzen.

Um nicht zu weiterem Vertrauensverlust gegenüber der Organspende zu führen, muss in der Debatte um die Widerspruchsregelung deutlich gemacht werden, was sie erzielen will und was sie nicht ist. Sie will dazu führen, dass mehr Menschen geholfen werden kann, die auf ein Organ warten. Sie ist definitiv keine Pflicht zur Organspende.

Verlorenes Vertrauen nach Organspendeskandalen?

Wenn von Vertrauen im Kontext der Organspende die Rede ist, steht oft ein Thema im Vordergrund: Die Verunsicherung und Unwissenheit bezüglich des (eigenen) Todes. Deswegen kurz zur Erklärung: In Deutschland ist eine Organentnahme erst nach eingetretenem und unter vier Augen medizinisch festgestelltem Hirntod möglich. Hier gibt es keinerlei medizinische Unsicherheiten. Die Kriterien, die in Deutschland für den Hirntod festgestellt werden müssen, gelten als eng und konservativ. Ein hirntoter Mensch kann nicht ins Leben zurückkehren. Lediglich mithilfe von Maschinen kann das Herz-Kreislauf-System aufrechterhalten werden, um die Organe zu entnehmen. Nach Abschalten dieser Geräte verfällt der Körper. Dennoch verwischen einige Artikel mit schwammigen Begrifflichkeiten diesen medizinisch eindeutigen Zusammenhang von unumkehrbarem Tod und Organentnahme.

Der Organspendeskandal 2012 – bezüglich der Manipulationen von Wartelisten (!) – hat zum Vertrauensverlust geführt. Um die entdeckten Defizite zu beheben, wurden neue Kommissionen gegründet und Verfahren verändert, die ein erneutes Umgehen der Richtlinien für Organspende unterbinden. Das Transplantationssystem wurde damit noch sicherer. Der Organspendeskandal hatte weder etwas mit Organhandel noch mit frühzeitiger Organentnahme zu tun. Dennoch werden diese Themen oft zusammengeworfen und erzeugen Ängste gegenüber dem medizinischen System. Obwohl es ausgeschlossen ist, dass in Deutschland Personen vorzeitig für Tod erklärt werden, um die Organe zu verwenden, kursieren solche Geschichten und Ängste weiterhin. Um das Vertrauen in das deutsche Organspendesystem zu stärken, sind Aufklärung und diese erneute Debatte über das Thema wichtig. Es muss betont werden, dass diese Themen bezüglich der erwähnten Skandale keinen direkten Zusammenhang mit der Widerspruchsregelung haben, sondern allgemein die Organspende betreffen.

Unsere europäischen Nachbarn und die "Goldene Regel"

Erwähnenswert hinsichtlich dieser Debatte ist außerdem, dass Deutschland beileibe kein Neuland betritt. Die Widerspruchsregelung gilt bereits in Bulgarien, Frankreich, Irland, Italien, Lettland, Liechtenstein, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Polen, Portugal, der Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, der Türkei, Ungarn und Zypern. Aus Sicht der christlichen Sozialethik sollte sich diesen Ländern angeschlossen werden. Entsprechend des Personalitätsprinzips der katholischen Sozialethik, das insbesondere für die Schwachen und Notleidenden eintritt, sollte sich nach der genannten Abwägung für die Widerspruchsregelung eingesetzt werden. Deswegen wäre es wünschenswert, wenn die oben genannten Würdenträger ihre ablehnende Haltung gegenüber der Widerspruchsregelung noch einmal überdenken würden, um im öffentlichen Diskurs zugunsten einer Widerspruchsregelung einzutreten.

Die Goldene Regel („Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“) verlangt von jeder*m Einzelnen, sich in die Position des Anderen hineinzuversetzen – im Fall der Organspende, also in die Rolle jener Menschen, deren Namen auf der Warteliste stehen. Jede Person kann potentiell in die Notlage geraten, ein Organ zu benötigen. Deswegen wäre zu überlegen, was selbst in dieser Situation von den Anderen erhofft würde.

Für diejenigen, die sich mit diesem Platzwechsel jedoch schwertun, wäre eine Umfrage von Vorteil. Jedoch keine Umfrage zur Widerspruchsregelung, bei der alle befragt werden, sondern eine, bei der ausschließlich die Betroffenen – also diejenigen, die auf ein Organ warten oder ein solches bereits transplantiert bekommen haben – befragt werden. Es ist anzunehmen, dass ein sehr hoher Anteil von denjenigen, die genau wissen was es heißt, dieses Leben auf der Warteliste zu führen, für die Widerspruchsregelung stimmen würden. Ein neues Organ zu bekommen, bedeutet für viele Transplantierte ein neues Leben geschenkt zu bekommen. Deswegen erscheint der geringe Verlust an Selbstbestimmung als angemessenes Opfer zugunsten des hohen Gutes, mehr Organe für die Schwerkranken zur Verfügung stellen zu können. Da ich als Transplantierter bereits häufiger Kontakt zu anderen Organempfängern hatte, konnte ich (obgleich nicht repräsentativ) nachfragen, ob sie die Widerspruchsregelung einführen würden: Sie alle haben die Widerspruchsregelung befürwortet.


Hinweis der Redaktion: Kommentare geben grundsätzlich die Meinung des jeweiligen Autors bzw. der Autorin und nicht die der Redaktion wieder.

Zum Autor

Adrian Magnucki ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt “Sozialethische Untersuchungen zur Zukunft der sozialen Sicherheit in Deutschland unter der Bedingung gesteuerter und ungesteuerter Migration – Soziale Gerechtigkeit unter Knappheitsbedingungen”. Das Projekt wird derzeit an der Professur für christliche Sozialwissenschaft und Sozialethik  an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt durchgeführt.

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