Am 15. November – nur wenige Tage nach dem 30. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer – feierte die Katholisch-Theologische Fakultät zusammen mit dem Priesterseminar ihr Patronatsfest „Albertus Magnus“. In seinem Grußwort erinnerte der Dekan der Fakultät, Prof. Dr. Jörg Seiler, an „mutige und starke Menschen [die sich] in der Friedlichen Revolution […] in die europäische und Weltgeschichte eingeschrieben“ hatten. Im Kontext aktueller politischer Stimmungen rief er weiterhin zum Widerstand gegen “Demagogie und faschistoide Denkweise” auf. Den entsprechenden Auszug aus seinem Grußwort können Sie hier im Wortlaut nachlesen (inkl. Video).
“[…] Vor 800 Jahren und zwei Monaten – wir schreiben den September 1219 – meinten die Chronisten ein Ereignis festhalten zu sollen, das auf den ersten Blick so spektakulär nicht war: Ein Christ trifft einen Muslim und beide unterhalten sich. Laut zeitgenössischen Quellen verlief das alles recht friedlich. Das Besondere dieser Szene: Wir befinden uns im Krieg. Seit über einem Jahr belagerte ein Kreuzfahrerheer im Nildelta bei Damiette das Heer des Sultans al-Kamil. Nicht darin besteht jedoch die Pointe der Begegnung, dass man etwa lernen könnte, es sei sinnvoller, miteinander zu reden als einander die Köpfe einzuschlagen.
Es sind vielmehr die bemerkenswerten nachträglichen Einsichten, die — Sie wissen es — der Hl. Franz von Assisi im Anschluss an diese Begegnung der Kulturgeschichte der westlichen Christenheit ins Stammbuch geschrieben hat (wo sie leider allzuoft auch verblieben und verstaubten): Franziskus schrieb direkt nach seiner Rückkehr aus Ägypten seine erste Regel, die so genannte „Regula non bullata“. Ein eigenes Kapitel handelt von den Brüdern, „die unter die Sarazenen und andere Ungläubige gehen“ wollen. Was sollten diese Brüder laut Franziskus machen? Worin besteht ihre Aufgabe? Im schlichten Zeugnis des Da-Seins und des friedlichen Verweilens unter den „Ungläubigen“, des gewaltfreien Mitlebens: Streitigkeiten und Auseinandersetzungen jeglicher Art sollten vermieden werden.
Die Wahrheit bezeugend und überzeugend sein kann also nur der- und diejenige, die fähig ist, sich der Fremdheit des anderen erst einmal auszusetzen, zu beobachten und verstehen zu wollen, wie der andere tickt und warum so und nicht anders. Erst dann darf der dialogische Wettstreit um je eigene Überzeugungen beginnen – erst dann dürfen die Brüder, sofern es opportun ist, predigen.
– Jörg Seiler
Ich erinnere an solche Selbstverständlichkeiten unserer christlichen Tradition angesichts antijüdischer und antiislamischer Ausschreitungen, Vorurteile und Ressentiments in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Wir treten ihnen entschieden entgegen.
Ich erinnere an solche Selbstverständlichkeiten als Voraussetzung einer konstruktiven diskursiven Praxis in unserer demokratischen Verfassungsordnung und freiheitlichen Gesellschaft angesichts einer erschreckenden Resonanz, die Demagogie und faschistoide Denkweise bei den letzten Landtagswahlen hier in Thüringen gefunden haben. Wir treten ihnen entschieden entgegen.
Als theologische Fakultät ist uns das nicht egal.
Hier, in Mittel- und Ostdeutschland, haben mutige und starke Menschen in der Friedlichen Revolution sich in die europäische und Weltgeschichte eingeschrieben. Es waren Menschen mit Rückgrat. Ich präferiere diese individuelle Zuschreibung gegenüber den Deutungsstreitigkeiten, „wem“ die Friedliche Revolution zu verdanken sei oder gar „gehöre“. Jede und jeder der hier Anwesenden hat ihr gegenüber ein eigenes Verhältnis. Für uns als Fakultät markiert dieses mauerstürzende „Zeichen der Zeit“ eine Brücke hin zum Philosophisch-Theologischen Studium zu DDR-Zeiten, von dessen Tradition her wir uns in Forschung und Lehre inspirieren lassen. Weiterhin denken wir von allen Menschen, mit denen zusammen wir hier in Mittel-/Ostdeutschland Gesellschaft sind, aus. Weiterhin begleiten wir den kirchlichen Weg im Bistum Erfurt und in unseren ostdeutschen Bistümern in enger Verbundenheit und konstruktiv mit.
Ich wünsche mir in unserer Gegenwart und für die Zukunft ähnlich beherzte Menschen wie jene des Jahres 1989, die vom Horizont einer menschenwürdigeren Gesellschaft aus Verantwortung übernehmen und Verantwortlichkeit um der Würde eines jedes Menschen willen einklagen.
Vielleicht sind Sie, liebe Studierende, die — verzeihen Sie den martialischen Ausdruck — Speerspitze einer Bewegung und damit wahre Kommilitonen, um den Ungeist von Gleichgültigkeit, Hass, Demagogie und Selbstgefälligkeit immer wieder aufzuspießen. Ich hoffe, dass uns allen eine Utopie friedvollen Miteinanders wie bei Franziskus und der Mut der Friedfertigen wie 1989 beflügelt und antreibt. […]”
Die Katholisch-Theologische Fakultät feiert jedes Jahr am 15. November das Fest ihres Schutzheiligen, des Kirchenlehrers Albertus Magnus. Die hochschulöffentlichen Feierlichkeiten begannen um 9 Uhr mit einem Festgottesdienst im Dom. Es folgte ab 11 Uhr eine akademische Feier, die mit einem Grußwort von Dekan Prof. Dr. Jörg Seiler eröffnet wurde. Er ging dabei auf aktuelle gesellschaftliche Situationen sowie die Perspektiven der Theologie in Mittel- und Ostdeutschland ein. Seine vollständige Ansprache sehen Sie weiter unten im Video. Weiterhin trugen sowohl die Studiendekanin, Prof. Dr. Maria Widl, als auch die Sprecherin der Fachschaft, Paula Greiner-Bär, einen Bericht zur den Feierlichkeiten bei. In einem Festvortrag sprach Prof. Dr. Dr. Thomas Johann Bauer, Professor für Theologie und Exegese des Neuen Testamentes sowie wissenschaftlicher Leiter des Vetus-Latina-Institutes, über „Die Anfänge der lateinischen Bibel und die Wurzeln des christlichen Abendlandes“.
Prof. Dr. Jörg Seiler ist Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Erfurt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Kirchengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die Geschichte des Deutschen Ordens im Reich, Kirchengeschichte in kulturwissenschaftlicher Perspektive und Historische Friedensforschung / Kirche im Krieg. Seit Oktober 2019 steht er der Fakultät als Dekan vor.