Für Achim Kemmerling gab es vielfältige Gründe, nach acht Jahren an der Budapester Central European University (CEU) nach Deutschland zurückzukehren: Nicht nur, dass es für ihn Zeit war, sich zu verändern – einige Kurse habe er bereits im Schlaf halten können, sagt er –, auch die "Stabilität der deutschen Hochschulbürokratie" lernte er in seinen Auslandsjahren überraschenderweise wieder zu schätzen. Dass sich die Pendelstrecke zu seiner Frau, die in Berlin arbeitet, enorm verkürzte, war ein weiterer positiver Nebeneffekt. Gänzlich von seiner Wiederkehr überzeugten ihn dann aber der Ruf und das Portfolio der Willy Brandt School of Public Policy der Universität Erfurt. Hier hat er seit Jahresbeginn die Gerhard Haniel Professur für Public Policy and Development inne. Wie gemacht für den Politikwissenschaftler.
Prof. Dr. Kemmerling absolvierte seinen Master in Internationaler Politischer Ökonomie an der University of Warwick bevor er an der Freien Universität Berlin im Bereich Politikwissenschaft promoviert wurde. Nach berufspraktischen Stationen unter anderem am Wissenschaftszentrum Berlin und der Jacobs University Bremen folgte er 2010 einem Ruf als Professor für Politische Ökonomie des Fachbereiches Public Policy an die private, amerikanisch-ungarische Hochschule CEU in Budapest. Dort arbeitete er bereits mit einer ähnlich internationalen Studierendenschaft zusammen wie jetzt an der Brandt School – und das reizt ihn ganz besonders: "Ich habe schon allein ein großes intrinsisches Interesse, Studierende aus aller Welt zu betreuen", sagt er und meint damit, dass nicht nur er sein Public Policy-Fachwissen mit ihnen teilt, sondern er im Gegenzug auch von ihnen viel über Politik, Kultur und Sozioökonomie ihrer Herkunftsländer – die an der Brandt School alle Kontinente abdecken – lernen kann. "In Erfurt sind die Studierenden sogar noch etwas internationaler", freut sich der Politikwissenschaftler. Und: Er wird auch mehr mit ihnen zu tun haben. Denn in Deutschland muss er mehr Zeit für Lehre einplanen, als er es bisher gewöhnt war. "Im internationalen Vergleich muss ein Professor in Deutschland mehr Lehre leisten. Da habe ich schon Bedenken gehabt: mehr Lehre, mehr Selbstverwaltung, weniger Zeit für Forschung. Aber", relativiert er, "der Charme der Brandt School, der auch in ihrer kleinen Größe liegt, überwiegt. Das Wissenschaftler-Team ist kleiner, aber wenn man mit seinen Kollegen und Kolleginnen gut zusammenarbeitet, kann man auch in der Forschung viel erreichen." So erwartet er neben neuen Herausforderungen in der Lehre auch neue Forschungsprojekte und wissenschaftliche Impulse. Thematisch ist Professor Kemmerling dabei gar nicht so festgelegt. "Ich habe weniger ein klassisches Forschungsprofil, sondern sehe mich eher als Generalisten", betont er auch mit Blick auf seine bisherigen Forschungen. Dazu gehört beispielsweise die Untersuchung von Politikinstabilität durch Privatisierungsreformen unter anderem im Energie-, Transport- und Kommunikationsbereich oder auch in der Renten- und Sozialpolitik. "In den 1980er-Jahren und nach der Jahrtausendwende gab es international einige Rentenreformen, die auf die eine oder andere Weise auf Privatisierung hinausliefen. In Deutschland zum Beispiel die Riester-Rente, die nur eine kleine und eher konsequenzenlose Reform geblieben ist. Aber in anderen Ländern war das viel radikaler: Chile hat komplett die staatliche Rente abgeschafft. Einige andere Länder in Südamerika und Osteuropa folgten mehr oder weniger drastisch", berichtet Kemmerling. "Das ist natürlich noch nicht das Neue, aber mich interessiert die Tatsache, dass all diese Reformen gefallen sind. In Südamerika gibt es Länder, die die Reform komplett wieder zurückgenommen haben, auch Ungarn ruderte zurück und bald wird es wahrscheinlich auch Polen tun. Für mich ist das ein sehr lehrreiches Politikfeld: Die Einführung von etwas, das man dann wieder zurücknimmt, führt dazu, dass die Bevölkerung das Vertrauen in die Regierung verliert. Dies ist ein relativ gängiges Problem, das aber bisher selten systematisch behandelt wurde." Ein Reformgegner ist er deshalb aber nicht gleich: "Ich bin nicht gegen Reformen, aber gegen das verbreitete Leitmotiv 'Man muss reformieren'. Für Reformen gibt es häufig gute Gründe, aber die Gegenposition wird zu selten ausgeleuchtet, nämlich: Wann ist eigentlich Stabilität gut?" Neben Politikinstabilität beschäftigt sich Kemmerling auch mit dem Thema regionale Ungleichheit. Er untersucht ihre Triebkräfte, wie sie sich in bestimmten Gebieten, beispielsweise in Myanmar, über die Jahre entwickelt hat und welche Rolle dabei Entwicklungshilfe, die häufig in den ärmsten und am schwersten zugänglichen Gebieten gar nicht ankommt, spielen könnte. Und sein neuestes Projekt steht auch schon in den Startlöchern. Darin will sich der Professor des Themas Digitalisierung, Robotik und Arbeitsmarkt annehmen und untersuchen, wie sich dadurch die Ängste der Bevölkerung zur Zukunft der Arbeit verhalten und warum das Phänomen "Angst um den Arbeitsplatz" in regelmäßigen Abständen wieder aktuell ist.
Trotz des generellen Forschungsinteresses von Achim Kemmerling verbindet seine Projekte doch ein roter Faden: Sie alle beschäftigen sich im weiteren Sinne mit Sozialpolitik und deren Auswirkungen auf den Menschen und seine Lebensbedingungen. Und sie haben gemeinsam, dass sie lehrreich und wichtig für die Entwicklung der Gesellschaft sind. Diese Gesellschaftsrelevanz liegt für Kemmerling nicht nur in der Natur der Brandt School. Auch die Sozial- und Geisteswissenschaften im Allgemeinen sollten stärker Beachtung bei der Beurteilung vermeintlich gesicherten Wissens in der Praxis finden. "Hätten die Ökonomen vor der Finanzkrise auf die Soziologen gehört, hatte die Krise wahrscheinlich nicht dieses Ausmaß angenommen", meint der Professor. "Eine etwas steile These natürlich…" Es sind Thesen, Fragestellungen und Denkanstöße wie diese, die er nun mit den Studierenden und dem Kollegium der Willy Brandt School in Forschung und Lehre erörtern kann. Und dazu heißt ihn die Uni Erfurt herzlich willkommen!