Ihren Lieblingsplatz in der Sondersammlung der Universitätsbibliothek Erfurt hatte Iolanda Ventura schnell gefunden: Gleich ganz vorne, auf dem ersten Platz rechts hat sich die neue Amplonius-Stipendiatin "eingerichtet". Dort sitzt die Wissenschaftshistorikerin seit Wochen täglich und erforscht mit ausgewählten Büchern der Amplonius-Sammlung einige der vielen Geheimnisse der mittelalterlichen Pharmazie.
Für die bekennenden Bücher- und Handschriften-Anhängerin ist das Amplonius-Stipendium, mit dem sie ein Semester lang in Erfurt leben und forschen kann, eine weitere wichtige Station in ihrem rastlosen Forscherdasein. Nach dem Studium der Klassischen Philologie und ihrer Promotion hatte die naturwissenschaftsbegeisterte Italienerin Forschungs- und Lehraufenthalte sowohl in ihrer Heimat, als auch in Deutschland, Belgien, Frankreich und Großbritannien. "Freunde sagen immer zu mir, ich sei eine echte Europäerin", lacht Ventura. "Jedes Jahr ein anderes Land, eine andere Sprache, eine andere Tätigkeit. Aber das hat mir die Möglichkeit gegeben, mich mit ganz verschiedenen Forschungsrichtungen und -interessen auseinanderzusetzen. Ich habe mit Kunsthistorikern, mit Orientalisten, mit Romanisten, Anglisten und Historikern der modernen Geschichte gearbeitet. Ich denke jetzt multidisziplinär."
Seit gut zwei Jahren hat die 43-Jährige dann doch so etwas wie ein Zuhause: Bis zum Jahr 2016 hat sie eine Forschungsprofessur in Orléans am Centre national de la recherche scientifique, dem französischen Äquivalent der Deutschen Forschungsgemeinschaft, inne. "Ganz viel Forschung und nur ein bisschen Lehre!", betont Ventura, die schon seit dem Studium wusste, dass sie vor allem forschen möchte. Der jetzige Aufenthalt in Erfurt gewährt der Dozentin Ventura eine kleine Auszeit und lässt der Forscherin und ihrem Forschungsgegenstand ganz den Vortritt. "Ich versuche, einen Überblick über die Phasen der Entwicklung der mittelalterlichen Pharmazie – wie sie sich im Rahmen der Amploniana rekonstruieren lassen – zu schaffen", beschreibt Ventura ihr Forschungsvorhaben, das sie nach Erfurt führte. "Im Mittelalter nutzte man Naturmittel, Pflanzen, Mineralien und tierische Materialien in der Pharmazie, also das, was wir auch heute noch aus der Naturmedizin kennen. Man wusste um die Eigenschaften und Qualitäten der einzelnen Naturmittel und wie man mit ihnen den menschlichen Körper wieder in Einklang bringt. Aber die Entwicklung im Mittelalter, die ich hier aus den Büchern der Amploniana herauslesen kann, geht darüber hinaus und ist weitaus komplexer und faszinierender", sagt Ventura – und führt mit viel wissenschaftlichem Enthusiasmus und italienischem Temperament aus, worauf diese Faszination für sie beruht: "Zum einen kann man in der Sammlung die Entwicklung verschiedener Niveaus von Texten erkennen. Wir finden hier nicht nur Texte für die Praxis, etwa für Apotheker, sondern auch für Ärzte an Universitäten, die viel trockener und komplizierter, fast schon mathematisch erklären, wie beispielsweise Pflanzen wirken. Hinzu kommt, dass sich hier auch die Bedeutung des kulturellen Dialogs abzeichnet. Der Gedanke, dass sich die Medizin nur im Abendland entwickelt hat, ist schlichtweg falsch. Sie lebte vom Austausch der Kulturen", weiß Ventura. "Die Entwicklung vom 11. bis 13. Jahrhundert hätte so nie stattgefunden, wenn es keine arabischen Texte gegeben hätte, die ins Lateinische übersetzt wurden. Erst dadurch wurden neue Texte entdeckt, neue Stoffe, neue Substanzen. Aber auch der Wortschatz entwickelte sich dadurch enorm weiter." Darüber hinaus fasziniere natürlich auch die einzigartige Fülle von Schriften, die sie in Erfurt vorfand. "Die Texte gehen in die Tausende und darunter sind sehr viele, die als Hilfs- und Lehrmittel gedacht sind und in denen jeder Leser seine eigene Wahrheit finden kann. Wenn man sich der Geschichte der mittelalterlichen Pharmazie widmet, merkt man schnell, dass die meisten Wissenschaftler mit den gleichen Texten gearbeitet haben. Dabei gibt es hier so viel mehr: Texte, die noch nie angefasst wurden und nur darauf warten, bearbeitet zu werden. Bevor man in die Bibliotheken von London und Paris fährt, sollte man in die Amploniana gehen. Sie bietet einen wichtigen Ausgangspunkt für Untersuchungen." Auch die Hilfe, die das Team der Amploniana Forschern bietet, ist für die Forscherin eine Rarität. Es gibt nicht nur die Schriften aus, wie etwa in anderen Bibliotheken, "sondern es findet ein richtiger Informationsaustausch statt und die Mitarbeiter versuchen, alle Fragen zu beantworten, die sich bei mir auftuen. Es ist wie ein gemeinsames Vorankommen – eine einzigartige Erfahrung für mich".
Dieses intensive Arbeiten in der Amploniana gibt Iolanda Ventura Antworten auf ihre Fragen, es wirft aber auch ständig neue Forschungsansätze und Fragen auf, zum Beispiel über die Logik der Amplonius-Sammlung und der Zusammensetzung ihrer Bücher. Denn Schriften unterschiedlicher zeitlicher und regionaler Herkunft wurden einst zu einem Buch zusammengebunden, was nicht nur die Frage aufwirft, nach welcher Logik dies passierte, sondern auch, ob man überhaupt noch chronologisch denken sollte. "Um die Geschichte einer Gattung zu erforschen, also in meinem Fall der mittelalterlichen Pharmazie, muss ich im Prinzip auch die Geschichte jedes einzelnen Textes und Buches erforschen, um mir den nötigen Hintergrund zu verschaffen. Ich muss transchronologisch denken und schauen, ob andere Texte auch in den gleichen kulturellen Kontext passen. Ich müsste also jeden einzelnen Text drehen und wenden und eigentlich die ganze Bibliothek durchforsten. Da habe ich aber ein Problem: die Zeit. Ich könnte drei Leben hier verbringen."
Iolanda Ventura hatte sich vorgenommen, zwei bis drei Handschriften täglich zu bearbeiten, Inhalte zu vergleichen und wichtige Texte zu transkribieren. Nun bleibt sie meist jedoch an einer hängen. Nach einem Text eines unbekannten Autors zur Theorie der Abführung, der die Frage nach alternativen Paradigmen in der Medizin aufwirft, und einer kommentierten Rezeptsammlung eines Formates, "das man nicht unbedingt mit zum Strand nehmen möchte", fesselt Ventura zurzeit ein kleiner, zur Naturmagie tendierender Text: "Dieser Text wurde im 13. Jahrhundert von dem jüdischen Magister Farag aus Palermo aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt – im Auftrag des Königs als Ergänzung zu dessen Hofbibliothek. Es gab ja nur einige Juden, die das konnten, und mich fasziniert, dass er ganz allein in der Lage war, das gesamte Werk zu übersetzen. Mit diesem Magister möchte ich mich in Zukunft näher beschäftigen". Und auch auf ein mögliches weiteres Projekt ist sie hier in Erfurt gestoßen: die Entwicklung der Pharmazie als universitäres Fach. "Erfurt mit seinen Schriften des Mittelalters und Gotha mit seiner Sammlung zur Frühmoderne bieten dabei so viel Material, dass ich mir dafür jetzt schon einmal einen vorläufigen Katalog zusammenstellen kann." Auch wenn Iolanda Ventura keine drei Leben hat: Allein in diesem einen Leben wird sie nicht das letzte Mal in Erfurt gewesen sein. Und wenn sie wiederkommt, dann ist der Platz im Sonderlesesaal der Bibliothek, gleich ganz vorne rechts, schon einmal für sie reserviert.