Wenn man Sonja Dolinsek fragt, ob sie Feministin und Frauenrechtlerin sei, wägt die Forscherin erst einmal genau ab, was sie antwortet. Dann ein zaghaftes "Ja schon" und im Nachgang der Hinweis, wie viele unterschiedliche Vorstellungen es doch vom Feminismus gibt. Selbstbestimmungsrechte – das ist es schon eher, worum es ihr geht. Als Mensch natürlich, aber auch als Wissenschaftlerin, die sich intensiv mit Frauen- und Menschenhandel, Prostitution und Sklaverei auseinandersetzt. Zu diesem Thema verfasst Dolinsek gerade ihre Doktorarbeit im Fachbereich Globalgeschichte der Universität Erfurt, in der sie vor allem globale Netzwerke und transnationale Politiken nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht.
Auf das Thema Menschenhandel stieß Sonja Dolinsek bei einem Auslandsaufenthalt in den USA, den sie während ihres Geschichts- und Philosophie-Studiums an der Humboldt-Universität zu Berlin absolvierte. Seitdem lässt sie das Thema nicht mehr los. "Ich begann, mich mit verwandten Themen zu beschäftigen: Geschichte der Sklaverei, Umgang von Staaten mit Minderheiten, Migration, Prostitution", erklärt die Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung. Zur Prostitution in der BRD aus sozialwissenschaftlicher Sicht verfasste sie dann ihre Magisterarbeit. "Ich habe mir angeschaut, wie zwischen 1949 und 1990 über Prostitution geforscht wurde und welche Fragen Wissenschaftler dabei interessiert haben. In den 50er-Jahren zum Beispiel hat man nach den Gründen für Prostitution gesucht und versucht, auf verschiedenen Ebenen Mängel bei den Prostituierten festzustellen. 30 Jahre später hat man sich dann eher gefragt, wie sich die Frauen selbst wahrnehmen, wie sie selbst zu ihrem Leben stehen." Dolinsek interessiert, wie Gesellschaften mit dem Thema Prostitution, das meist vor allem weiblich gedacht wird und häufig eng an das Thema Menschenhandel geknüpft ist, umgehen. "Prostituierte scheinen ein Platzhalter für eine ganze Reihe von Ängsten zu sein", sagt sie. "Alles, was irgendwie tabuisiert ist, wird auf sie projiziert; unterschiedlichste Wertungen und Vorstellungen werden mit ihr in Verbindung gebracht: Schmutz, körperliche und psychologische Krankheiten, Abweichung, Unmoral, Kriminalität und damit Opfer- und Täterkonstruktion – das alles wird der Figur der Prostituierten aufgedrückt." Wie sich dieses Bild über die Zeit ändert, daran könne man auch Trends in der Gesellschaft ablesen und breitere Entwicklungen verstehen, so Dolinsek, zum Beispiel bei Fragen zu Frauen- und Bürgerrechten: Wie stark darf der Staat in das Leben von Bürgerinnen eingreifen, darf der Staat regulieren und kriminalisieren?
Für ihre Dissertation hat Dolinsek den geografischen Untersuchungsrahmen nun transnational ausgeweitet und vom Gegenstand der Wissenschaft hin zur Politik verschoben. "Prostitution und Menschenhandel wurden auf internationaler Ebene häufig gleichzeitig verhandelt. Mich interessiert, wie das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ein Zeitraum, für den es bisher nur wenige Untersuchungen gibt – im Laufe der Zeit verhandelt wurde, welche Netzwerke weltweit gebildet wurden und wann, wie und mit welchem Ziel das Thema in die öffentliche Diskussion gebracht wurde – und natürlich durch welche Akteure." Akteure wie beispielsweise die Soziologin Kathleen Barry, die den Begriff der weiblichen sexuellen Sklaverei prägte und in den 1970ern mit einem Aufsatz zum Thema Menschen- und Frauenhandel in der US-amerikanischen Frauenzeitschrift Ms. Magazine einen Stein ins Rollen brachte, wie Dolinsek weiß: "Barry rief in ihrem Beitrag die Leserinnen dazu auf, den Vereinten Nationen Briefe zu schicken und sie auf das Thema aufmerksam zu machen. Viele Frauen folgten dem Aufruf, sodass das Thema tatsächlich in die Tagesordnung der nächsten Sitzung der ‚Kommission über den Status der Frauen‘ aufgenommen wurde. Barry selbst sprach 1980 auch auf der ersten Weltfrauenkonferenz der UN als Expertin über sexuelle Sklaverei." Sie trat damit eine Bewegung in Gang, die sich weltweit verbreitete, auch in Deutschland, wo die Frauenzeitschrift EMMA 1983 ebenfalls begann, über sexuelle Sklaverei zu sprechen. Genau solche Netzwerke interessieren Dolinsek und auch wie verschiedene Staaten darin agiert haben. "Es ist interessant, wie im Kalten Krieg auf beiden Seiten dazu Stellung genommen wurde. Die UN-Konvention gegen Menschenhandel von 1949 beispielsweise haben die Ostblockstaaten mit als erstes unterzeichnet, aber nicht ohne die Anmerkung hinzuzufügen, dass sie dieses Problem aufgrund ihrer wirtschaftlichen Struktur selbstverständlich gar nicht haben. (Zwangs-)Prostitution gab es dort natürlich trotzdem, genauso wie in den USA, wo sie offiziell auch geleugnet wurde, inoffiziell aber eine ganze Abteilung des FBI damit beschäftigt war. Also auch in diesem Bereich kommt die Bandbreite der Systemkonkurrenz zum Ausdruck."
Ihre Recherchearbeiten führen Sonja Dolinsek in die Archive dieser Welt, wo sie interne Protokolle und Dokumente von Kommissionen, Verhandlungen, Abkommen und Konferenzen einsieht. Dabei untersucht sie, welche NGOs und Staaten überhaupt aktiv waren, wie diese Menschenhandel und Prostitution konzeptualisiert und wie sie das Thema letztlich bei den Vereinten Nationen, die im Zentrum ihrer Untersuchungen stehen, eingebracht haben. Und sie führen sie manchmal zum Untersuchungsgegenstand selbst, gerade wenn sie Material zu den jüngeren Entwicklungen sucht, das meist noch nicht archiviert ist. Kontakte zur Branche hat sie aber auch dadurch, dass sie zu ganz aktuellen Themen wie das neue Prostituiertenschutzgesetz der Bundesregierung öffentlich deutlich Stellung bezieht. Dann weniger als Wissenschaftlerin oder gar Feministin – selbst wenn ihr Forschungsthema schon immer auch eine feministische Debatte war – sondern vor allem als eine von speziellem Hintergrundwissen geprägte Verfechterin von Selbstbestimmungsrechten.