Auf Stimmenfang: Universität Erfurt und HELIOS-Klinikum starten Pilotprojekt "Lehrerstimme"

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On Campus: Pilotprojekt Lehrerstimme

Es gibt im wahrsten Sinne des Wortes stimmgewaltige Berufe, in denen die Stimme das Kapital ist und bei ihrem Versagen quasi eine Berufsunfähigkeit droht. Hier denkt man sofort an Opernsänger oder Schauspieler. Es gibt aber auch weniger künstlerische Berufe, die auf eine gute Stimme angewiesen sind: Theologen, Moderatoren – und allen voran: Lehrer. Sie stehen sechs bis acht Stunden täglich vor der Klasse und müssen sich mit ihrer Stimme in einem von Lärm und Stress geprägten Umfeld behaupten können. Ob sie dazu überhaupt fähig sind und sie dafür die stimmlichen Voraussetzungen mitbringen, das merken Lehramtsstudierende häufig erst mit dem fortgeschrittenen Studium oder gar erst im Referendariat. Dann kommt es auch schon einmal vor, dass die angehenden Lehrerinnen und Lehrer plötzlich ganz aufgelöst vor Dr. Uta Wallraffs Büro sitzen und ihre Hilfe brauchen. Die Mitarbeiterin am Sprachenzentrum der Universität Erfurt bietet Lehrveranstaltungen in Sprecherziehung und Stimmberatung an. Um das Thema Stimmgesundheit stärker in den Fokus zu rücken, startet sie gemeinsam mit Oberärztin Dr. Breitenstein von der Abteilung für Phoniatrie/Pädaudiologie des Erfurter HELIOS-Klinikums nun das Pilotprojekt "Lehrerstimme".

Uta Wallraff betreut gemeinsam mit zwei Lehrbeauftragten jedes Jahr zwischen 400 und 500 Lehramtsstudierende an der Uni Erfurt. "Das Thema Stimme und Stimmberufe ist mir ein Herzensthema", sagt sie. "Sprache ist ja in fast allen unseren Hochschulberufsgruppen eine Schlüsselqualifikation. Und eine funktionierende Stimme gehört gerade im Lehrerberuf dazu." Zu DDR-Zeiten und bis in die 1990er-Jahre hinein gehörte deshalb ein sogenanntes phoniatrisches Gutachten, das eine Stimmbefähigung attestierte, noch zu den Zugangsvoraussetzungen eines Lehramtsstudiums. Im Jahr 2000 war dies weitgehend abgeschafft, weshalb Studierende heute häufig erst spät erkennen, dass sie Probleme in der praktischen Ausübung ihres Berufes haben könnten. "In zwei aktuellen Studien, die die Universität Leipzig über mehrere Jahre hinweg durchführte und an denen ich selbst auch beteiligt war, wurden mehr als 8.000 Studierende verschiedener Universitäten aus zehn Bundesländern – darunter Jena und Erfurt – untersucht", erklärt die Sprechexpertin. "Mit dem Ergebnis: 30 bis 40 Prozent der Lehramtsstudierenden sind stimmauffällig, haben eine Stimmstörung oder setzen ihre Stimme nicht optimal ein." Genau dieses Ergebnis spiegelt sich auch in der täglichen Arbeit von Uta Wallraff wider. Ein Drittel der Lehramtsstudierenden zeigt Auffälligkeiten: Viele Studierende setzen ihre Stimme nicht ökonomisch ein und würden einen Schultag vor der Klasse auf Dauer stimmlich nicht durchhalten. Auch Studierende mit Sigmatismus, also Lispeln, mit Artikulationsstörungen oder mit Legasthenie fallen Wallraff auf. Weiterhin gibt es unter den Studierenden vereinzelt Stotterer oder kaschierte Stotterer mit Sprechangst, einige sind sogenannte Polterer, die in ihrem Sprechtempo stark schwanken, Wort- und Satzteile auslassen, verschmelzen oder falsch aussprechen. "Die Stimme ist wie ein Motor. Wenn ich im dritten Gang mit 180 km/h von Erfurt nach Rostock fahre, kann man sich denken, was mit dem Motor passiert", sagt Uta Wallraff. "Und das Gleiche passiert mit der Stimme, wenn sie nicht optimal eingesetzt wird." Als Sprecherzieherin achtet sie im Gespräch auf Rauigkeit, Behauchtheit und Heiserkeit (RBH-System), auf die Sprechatmung, den Stimmeinsatz und die Beteiligung der Halsmuskulatur. Schon wenn sie sieht, dass die Halsmuskulatur beim Sprechen angespannt wird, weiß sie: Hier wird "der Motor" überbelastet. Stellt Uta Wallraff solch eine funktionelle – also eine den Stimmgebrauch betreffende Stimmstörung fest – oder vermutet sie eine organische – den Stimmapparat betreffende – Stimmstörung, kann sie den Betroffenen Sprechübungen verordnen oder sie an einen Spezialisten verweisen. Eigene Sprechtherapien anzubieten, dazu fehlen ihr jedoch die Ressourcen. Sie wünscht sich deshalb mehr Angebote im Bereich Stimmerziehung, von denen Lehramtsstudierende, aber auch angehende Kommunikationswissenschaftler, Manager und Theologen profitieren würden.

Mit "Lehrerstimme", dem nun startenden Kooperationsprojekt zwischen der Universität Erfurt und der Abteilung für Phoniatrie/Pädaudiologie des HELIOS-Klinikums, kann sie zumindest schon einmal einem kleinen Kreis Studierender lehramtsbezogener Studiengänge auch außerhalb der gängigen Lehrangebote die Möglichkeit geben, die stimmlichen Voraussetzungen überprüfen zu lassen, die eigenen stimmlichen Ressourcen kennen- und optimal nutzen zu lernen sowie Maßnahmen zur Vorbeugung von Stimmerkrankungen vermittelt zu bekommen. Hierfür erhalten die Probanden im Rahmen der klinischen Studie eine videogestützte Kehlkopfuntersuchung, einen Stimmleistungstest und eine Beratung. Im Gegenzug erhalten die Wissenschaftler des Fachgebietes "Phoniatrie" anonyme Daten für die weitere Erforschung von Stimmgesundheit im Beruf. Win-Win sozusagen. Uta Wallraff: "Wenn das Projekt dann auch noch die Sensibilität für dieses fächerübergreifende Thema innerhalb der Hochschule erhöhen kann, wird sich der Aufwand dafür allemal gelohnt haben."

Weitere Informationen

Universität Erfurt | Sprachenzentrum
Dr. Uta Wallraff
+49(0)361/737-2712
uta.wallraff@uni-erfurt.de