Mit Lupe und Bleistift auf Schatzsuche: Sven Ballenthin betreut Karten und Archiv der Sammlung Perthes

Vorgestellt
Büchergang in der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt

"Das Wichtigste sind Lupe, Bleistift und eine gute Portion Neugier", sagt Sven Ballenthin. Es ist noch früh am Morgen, aber der 39-Jährige ist schon voll in seinem Element. Ballenthin betreut in der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt die Archivalien und Karten der Sammlung Perthes und hat an diesem Morgen Besuch: Eine Gruppe Studierender ist aus Erfurt gekommen, um sich in den historischen Karten auf Globalisierungsspuren zu begeben. Sorgsam hat Ballenthin wunderbar farbige Stücke für die Seminargruppe herausgesucht und erläutert nun Einzelheiten. Zeigt Stadtpläne, Handelswege und Meeresströmungen, macht auf Verzerrungen aufmerksam und auf heute längst überholte Grenzverläufe, auf winzige Details –  beinahe so als habe er die Karten selbst gezeichnet. Ein Vormittag ganz nach seinem Geschmack, das ist ihm anzusehen… [...]

Seit 2008 arbeitet der gebürtige Gothaer in der Forschungsbibliothek und steigt dabei immer weiter in die Tiefen der Sammlung des Verlages Justus Perthes Gotha, die beeindruckendes Quellenmaterial zur Entwicklung der Kartografie und Geografie im 19. und 20. Jahrhundert liefert und in ihrer Geschlossenheit und der Verflechtung ihrer Bestände die letzte Phase des Entdeckungszeitalters auf einzigartige Weise dokumentiert. "Die Sammlung wurde 2003 vom Freistaat Thüringen mit den Mitteln der Kulturstiftung der Länder erworben und in die Forschungsbibliothek Gotha integriert", berichtet Ballenthin. "Allerdings befanden sich die Karten seinerzeit in einem schlechten konservatorischen Zustand und mussten erst einmal aufwendig gereinigt werden, damit sie überhaupt nutzbar waren." Und so war der studierte Historiker zunächst in einem umfangreichen Kartenreinigungsprojekt der Forschungsbibliothek beschäftigt, bei dem mit elektrostatischer Hilfe der Feinstaub von Karten und Archivalien abgenommen wurde. "Meine Aufgabe war es dabei, die gereinigten Karten neu zu ordnen und zu sortieren", sagt Ballenthin. "Inzwischen besteht ein Großteil meiner Aufgaben darin, die Archivalien und Karten Wissenschaftlern oder eben Studierenden für ihre Untersuchungen zur Verfügung zu stellen, Fragen zu diesem Material zu beantworten und es für die Website der Sammlung aufzubereiten, aber auch, dafür Sorge zu tragen, dass dieser wunderbare Schatz in der Öffentlichkeit noch bekannter wird." Und manchmal ist dies tatsächlich wie das "Schätzeheben" eines Archäologen, denn bei rund 185.000 Blatt Karten und guten 800 laufenden Metern Verlagsarchiv ist es beinahe unmöglich, jedes einzelne Stück zu kennen. "Wir entdecken immer wieder faszinierende Stücke, die meine Kollegin Dr. Petra Weigel, die Referentin der Sammlung, und ich dann beispielsweise in Veranstaltungen wie den ‚Gothaer Kartenwochen‘ der Reihe ‚Perthes im Gespräch‘ oder bei Führungen der Öffentlichkeit präsentieren." Und dabei sind es keineswegs nur Geografen und Historiker, die daran interessiert sind: Die Sammlung bietet zahlreichen Wissenschaften beeindruckende Quellen – sei es im Bereich der Botanik, in der Politik oder im Verkehrswesen. Denn die bei Perthes verlegten Karten, Atlanten und Zeitschriften, allen voran "Stielers Handatlas" und "Petermanns Geographische Mitteilungen", prägten bis weit in das 20. Jahrhundert hinein das wissenschaftliche Bild der Erde und sind bis heute auch für Laien eine wahre Fundgrube. "Die Sammlung wird immer populärer", sagt Ballenthin, "das merken wir an den zunehmenden Anfragen und dem großen Interesse an unseren Veranstaltungen. Dabei ist vielen gar nicht bewusst, was hier in Gotha eigentlich für Schätze liegen und wie umfangreich diese sind. Aber genau das zu ändern, ist unser Job." Ballenthin scheint genau der Richtige dafür zu sein, denn seine Begeisterung für die Arbeit in der Sammlung ist ansteckend. "Die Stücke erzählen unzählige Geschichten", sagt er, "das ist doch unglaublich spannend. In der Sammlung arbeitet man praktisch am ‚offenen Herzen‘ – mit Quellen aus längst vergangenen Tagen, das macht mich immer wieder ehrfürchtig." Ob man bei aller Sorgfalt, die der Job verlangt, auch ein bisschen "pingelig" wird? "Ich glaube schon, ein bisschen Pedanterie schadet hier bestimmt nicht", schmunzelt Sven Ballenthin. "Aber vielleicht ist das ja auch ein bisschen mein Naturell."

Im Augenblick hat der Historiker zwei Arbeitsplätze, zwischen denen er hin und her pendelt – einen in der Forschungsbibliothek auf Schloss Friedenstein in Gotha, den anderen in einem Depot in Erfurt, in das die Sammlung für die Dauer der Sanierung der ehemaligen Verlagsgebäude ausgelagert werden musste. "Das ist zwar etwas aufwendig, besonders weil wir im Depot kaum Möglichkeiten haben, mit den Karten zu arbeiten und deshalb immer wieder auch Transporte nach Gotha nötig sind, aber wenn eines Tages das Perthes Forum in Gotha fertiggestellt sein wird, dann werden wir die Sammlung dort ganz neu präsentieren können", freut sich Ballenthin schon heute und hofft, dass es 2015 soweit sein wird. "Denn die Stücke sind ja bei uns nicht ‚beerdigt‘, sondern werden stetig erschlossen, erforscht und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht."

Sven Ballenthin, der sich während seines Studiums an der Friedrich-Schiller-Universität Jena nicht nur mit Alter und Neuerer Geschichte, sondern auch mit klassischer Archäologie beschäftigt hat, ist in der Tat ein "Stöberer" aus Leidenschaft. Stundenlang kann er sich mit Karten, Atlanten und Archivalien beschäftigen. Und wenn er gerade nicht mit der Nase in einem der Stücke steckt? Dann hält Sven Ballenthin sie in den Wind. Am liebsten auf einem Segelboot – egal ob nun auf der Bleilochtalsperre oder der Ostsee. Der 39-Jährige ist Mitglied im Marineclub Gotha und spätestens jetzt wundert niemanden mehr die Detailverliebtheit, mit der er an diesem Morgen den Studierenden der Uni Erfurt die Seekarten längst vergangener Zeiten erläutert. Da kennt er sich nämlich bestens aus – mit Schiffsrouten und Strömungsverläufen, mit den Weltmeeren, den Expeditionen und Forschern, die über Jahrhunderte hinweg mit Gothaer Karten unterwegs waren. "Meine Arbeit in der Forschungsbibliothek Gotha ist wirklich eine glückliche Fügung", sagt Ballenthin. "Hier kann ich nicht nur mein Hobby mit meinem Beruf verbinden, die kleine Residenzstadt eröffnet mir, wenn man so will, auch ganz neue Sichtweisen auf die ganze Welt."