Ein Auslandsaufenthalt ist eine feine Sache. Man kann eine fremde Sprache vertiefen, bekommt Einblicke in eine andere Kultur, knüpft neue Kontakte, erweitert seinen Horizont und nebenbei macht es sich im Lebenslauf auch immer gut. Mehr als 100 Studierende der Uni Erfurt wagen diesen Schritt alljährlich. Johanna, die an der Universität Erfurt im Master Angewandte Linguistik studiert, war für ein Jahr an der University of York (Großbritannien) und begab sich u.a. auf die Spuren ihrer Lieblingsautorin ...
„‘There is nothing like staying at home for real comfort.‘ Jane Austen ist über die vergangenen Jahre eine meiner Lieblings-Autorinnen geworden. Und obwohl ich ihre Bücher liebe und manchmal auch finde, dass es nichts Gemütlicheres gibt, als einfach nur zuhause zu sein, hat es mich doch nach fünf Jahren Studium in Erfurt irgendwann in die Ferne gezogen. Ich wollte für ein Jahr nach Großbritannien, die Orte entdecken, an denen Austens Heldinnen ihre romantischen Abenteuer erlebt haben, das Land erkunden, das Shakespeare als 'Thron der Könige', als 'Quasi-Paradies' bezeichnet, und in verwinkelten Straßen den Tropfenden Kessel suchen oder vielleicht sogar einen Geheimgang nach Hogwarts finden. Der Queen winken, Tee trinken und natürlich regelmäßig Fish ‘n Chips essen: Das war meine Vorstellung.
Davor lag aber erstmal ein längerer, recht unkomplizierter Weg der Bewerbung. Meine Entscheidung, mit Erasmus+ nach England zu gehen, war erst nur eine vage Idee, denn ich hatte meinen Bachelor in Anglistik bereits abgeschlossen und befand mich im ersten Semester des Masters für Angewandte Linguistik. Offiziell besteht die Erasmus-Partnerschaft zwischen Erfurt und York nur für den Bachelor Anglistik, aber nach Rücksprache mit dem Internationalen Büro und der zuständigen Koordinatorin für den Master war schnell klar, dass die University of York (UoY) – unter bestimmten Bedingungen – optimale Voraussetzungen für das Studium der Linguistik bietet und der Erasmus-Austausch für mich auch im Master noch möglich und durchaus akademisch lohnenswert ist.
Die Online-Bewerbung auf der Website der Uni Erfurt war quasi selbsterklärend, das Empfehlungsschreiben von Dozent*in oder Professor*in (ebenfalls als Vordruck auf der Website zu finden) nach einem Termin in deren Sprechstunde bald ausgefüllt, das Motivationsschreiben mit Fernweh verfasst, der Lebenslauf aktualisiert, der Notenbericht beigelegt – und schon war die Bewerbung im Internationalen Büro abgegeben und der erste Schritt in Richtung 'Studium im Ausland' getan.
Auf die Freude über die Aufnahme ins Erasmus+ Programm folgte dann die Bewerbung an der UoY selbst, zu der man per Mail aufgerufen wird. Das Ganze läuft online ab und sieht erstmal nach einem ziemlichen Daten-Dschungel aus. Wenn man sich aber die Instruktionen in Ruhe durchliest, wird schnell klar, welche Dokumente gebraucht werden. Generell gilt hier, dass man sich bei Fragen und Missverständnissen jederzeit per Mail an die Zuständigen an der UoY wenden kann, die schnell, höflich, freundlich und absolut hilfsbereit antworten.
Akademisch hat die UoY in der Linguistik viel zu bieten. Da ich über Erasmus nach York gekommen bin, war es mir trotz des Master-Studiums nur erlaubt, Bachelor-Kurse zu belegen. Und Achtung, auch hier hieß es zuerst, dass man nur Kurse aus dem ersten oder zweiten Bachelor-Jahrgang belegen könne, da die Kurse aus dem dritten Jahr zu anspruchsvoll seien. Vor Ort war es dann aber nach einem Gespräch mit der zuständigen Koordinatorin kein Problem, sich für die Kurse der höheren BA-Semester anzumelden. Einzige Einschränkung: Austauschstudenten können ihre Kurse erst nach den regulären Studenten auswählen, so dass einige Kurse eventuell bereits voll sind.
Das Linguistik Departement der UoY bietet eine umfangreiche Auswahl an Kursen, die die Module der Uni Erfurt wunderbar ergänzen und komplettieren. Zwar waren die Kurse für Neuro- und Psycholinguistik schon voll, dafür boten sich andere spannende Möglichkeiten. Wer sich schon immer dafür interessiert hat, woher wir eigentlich so viel über die Vergangenheit von indogermanischen Sprachen wissen, kann beispielsweise das Modul Historic and Comparative Methods in Linguistics belegen, das dieser Frage bis ins Detail nachgeht. Das Modul Corpus Linguistics sieht inhaltlich erstmal nicht so spannend aus, gibt einem aber methodisch viele Tricks an die Hand, die jeder Linguist zur intensiveren Forschung beherrschen sollte.
Da ich schon immer großes Interesse an Phonetik und Phonologie hatte, habe ich zudem das Modul Articulatory & Impressionistic Phonetics belegt. Dort wurde sich nicht nur mit der Phonetik einer bestimmten Sprache, sondern mit den Lauten aller bisher erforschten Sprachen beschäftigt. Es gab Hörtraining, Transkriptionsübungen, verzweifelte Artikulationsversuche von uns Studenten und Vorlesungen über Sprachen, die Laute verwenden, von denen ich gar nicht wusste, dass der Mensch sie produzieren und dann auch noch kommunikativ verwenden kann.
Besonderen Spaß bot außerdem das Modul Translation German – English, in dem wichtige Infos und Theorien zur Arbeit des Übersetzens vermittelt, wöchentlich Texte übersetzt und im Plenum diskutiert wurden und innerhalb des Seminars unterhaltsame Unterschiede in Sprache und Kultur des Englischen und Deutschen zutage kamen.
Mein persönliches Highlight fand ich jedoch in dem Modul Forensic Phonetics; einer Disziplin, von der ich vor meinem Austausch noch nie gehört hatte. Das Fach stellt im wahrsten Sinne des Wortes angewandte Linguistik dar, da die Theorie der Phonetik in der Forensik praktisch angewendet wird, um Evidenz für Kriminalfälle zu schaffen. An echten (wenngleich bereits gelösten) Fällen wird geübt, die Audioaufnahmen krimineller Handlungen wie z.B. maskierte Überfälle oder erpresserische Anrufe phonetisch zu analysieren und mit den Stimmaufnahmen von Verdächtigen zu vergleichen. Dabei wird vorhandenes phonetisches Wissen vertieft und ausgebaut, unterschiedliche technische Möglichkeiten kommen zum Einsatz und grundlegende linguistische Theorien werden vermittelt.
Jedes Modul besteht aus einer Vorlesung und einem Seminar und findet über ein bis drei Trimester zweimal pro Woche statt. Die Vorlesungen unterscheiden sich nicht großartig von denen der Uni Erfurt, die Seminare sind allerdings um einiges praxisorientierter. Die wöchentliche Hintergrundlektüre wissenschaftlicher Artikel wird hier in York in gleichem Maße vorgegeben und vorausgesetzt wie in Erfurt und die praktischen Übungen fußen stets auf der gängigen linguistischen Forschung.
Insgesamt habe ich das breite Angebot sehr genossen und versucht, Kurse zu belegen, die in dieser Form in Erfurt nicht angeboten werden. Dementsprechend kann ich sagen, dass die Module des dritten Bachelor-Jahrgangs auch für Master-Studenten noch anspruchsvoll und spannend sind. :-)
Außerdem würde ich jedem, der an der Uni Erfurt einen Sprachkurs in einer zweiten Fremdsprache belegt, empfehlen, diese Sprache – sofern im Angebot vorhanden – auch in York weiter zu lernen und dabei nicht nur die eigenen Fertigkeiten zu verbessern, sondern vor allem auch die unterschiedlichen Schwierigkeiten zu beobachten, die Menschen mit verschiedenen Muttersprachen haben, wenn sie eine neue Sprache erlernen wollen.
Die UoY bietet allen Austauschstudenten einen Platz in einem der Wohnheime auf dem Campus. Ich habe viele Leute kennengelernt, die mit ihrer Unterkunft dort sehr zufrieden waren. Da es allerdings verhältnismäßig teuer ist und dort großteils Erstsemester unterkommen, wofür ich mich nach fünf Jahren Studium irgendwie zu alt gefühlt habe, habe ich den Wohnheimplatz abgelehnt und über spareroom.com privat ein Zimmer gesucht. Die Miete ist in York etwas höher als in Erfurt, es gibt jedoch viele Privatpersonen, die verhältnismäßig günstig leerstehende Zimmer in ihren Häusern untervermieten. So kam ich dann auch in einem gemütlichen Zimmer im Haus einer älteren Dame und ihrer berufstätigen Tochter unter.
Bei Leuten zu wohnen, die nicht Teil der üblichen 'Studenten-Blase' sind, war eine gute Erfahrung und hat mir Aspekte der britischen Kultur gezeigt, die ich womöglich nicht kennengelernt hätte, wenn ich mit anderen Studenten zusammengewohnt hätte. Trotzdem muss ich im Nachhinein sagen, dass eine WG mit Studenten vermutlich mehr Freiheiten geboten hätte, da diese wahrscheinlich eher an gelegentlichen Besuch und den studentischen Tag-Nacht-Rhythmus gewöhnt sind. So habe ich mich doch oft, obwohl meine Vermieterinnen unendlich liebe Mitbewohnerinnen waren, wie ein Gast im eigenen Haus gefühlt. Gleichzeitig bin ich froh und dankbar, dadurch auch Menschen außerhalb der Universität kennengelernt zu haben!
Ein Hinweis, den ich gern vor meinem Jahr hier gehabt hätte: Alle Studenten, und somit alle potenziellen neuen Freunde, wohnen südöstlich der Altstadt in der Nähe der Uni. Insgesamt sind aber alle Ecken dank fahrradfreundlicher Wege (und mit der richtigen Regenausrüstung!) innerhalb von maximal 30 Minuten zu erreichen. Und überhaupt ist York ein unendlich uriges, grünes Städtchen, in dem sich an jeder Ecke hübsche Seiten finden lassen. :-)
Zu diesem Punkt lässt sich so viel sagen, dass ich kaum weiß, wo ich beginnen soll. Und vermutlich verbringt im Endeffekt jeder seine Freizeit auf unterschiedliche Art und Weise… Die Uni ist hierbei aber eine große Hilfe. In der Woche vor Vorlesungsbeginn, während der sogenannten 'Freshers’ Week', finden zahlreiche Willkommensangebote statt, bei denen von gemütlichem Teetrinken und Spieleabenden über Ausflüge ins Jump House bis hin zu langen Partynächten alles Mögliche angeboten wird. Facebook wird hier übrigens großgeschrieben und viel wird dort über die Ersti-Gruppen kommuniziert.
Die UoY bietet eine Vielzahl von Hochschulgruppen an, sogenannte Societies, in denen Studenten alten Hobbys nachgehen und ganz neue entdecken können. Es gibt Outdoor Societies, Performance Societies für Theater, Musical und Oper, (pop-) kulturelle Societies, Fanclubs für so ziemlich alles von Jane Austen und Shakespeare über Harry Potter zu Taylor Swift und Pokémon. Und jede erdenkliche Sportart ist vertreten – selbst Polo für Anfänger… und natürlich Schach. Mein Tipp wäre, sich in den ersten Wochen mehrere anzugucken, aber nicht gleich allen offiziell beizutreten (für jede Society fällt eine kleine Gebühr an, die aber locker ins studentische Budget passt und sich bald durch unvergessliche Erlebnisse wieder auszahlt :-)). Nach zwei bis drei Wochen weiß man, wo man sich wirklich wohlfühlt!
Ich wollte gern eine gute Mischung finden aus Dingen, die ich bereits kenne und von denen ich sicher sein kann, Gleichgesinnten zu begegnen und neuen Dingen, die ich Zuhause noch nicht ausprobiert hatte und die mir vielleicht gleichzeitig die Kultur etwas näherbringen könnten. Das ist mir u.a. in der Swing Dance Society begegnet. Außerdem bin ich der Gilbert & Sullivan Society beigetreten – und dort habe ich all das, was ich mir für mein Jahr vorgestellt hatte, vereint gefunden: Die Herren Gilbert und Sullivan haben nämlich im 19. Jahrhundert lustige Operetten geschrieben, die nun hier von Studenten aufgeführt werden – mit Orchester in einem richtigen Theatersaal mit famosen, authentischen Kostümen. Und so konnte ich als Mitglied des Chors im Hintergrund auf der Bühne sitzen, wie die Königsfamilie Tee aus feinstem Porzellan trinken (das allerdings jemand während der Proben tollpatschig zerbrochen hat ;-)), lange Röcke tragen, die Jane Austens Protagonistinnen alle Ehre gemacht hätten (und über die ich regelmäßig gestolpert bin), Lyrik (nicht ganz) à la Shakespeare lauschen und meinem Lieblingshobby – Singen – nachgehen. Sogar ein bisschen Harry-Potter-Feeling war dabei, da unsere Aufführung in einem Theater stattfand, auf dessen Bühne als junger Mann niemand geringerer stand als der grummelige Hausmeister von Hogwarts, Argus Filch.
Das Beste daran – und das trifft wohl auf alle Societies hier zu – waren aber die Leute, die ich aus allen Ecken Großbritanniens (und teilweise auch aus entlegeneren Teilen der Welt) kennenlernen konnte und die mir gute Freunde geworden sind. An dieser Stelle muss vielleicht erwähnt sein, dass es dank der niedrigen sprachlichen Barriere recht einfach ist, zu den britischen Studenten Kontakt zu knüpfen, die internationale Gäste gewöhnt sind und sie mit offenen Armen aufnehmen.
Aber ich wollte natürlich auch das England außerhalb der Uni kennenlernen, und so bin ich so oft wie möglich ins Theater gegangen, habe alle Sehenswürdigkeiten im urig-englischen York mindestens einmal mitgenommen, die zahlreichen kleinen Second-Hand-Buchläden durchstöbert und die verschlungenen Gassen und Straßenecken erkundet. An den Wochenenden wollte ich dann auch die Umgebung erkunden und so bin ich immer mal auf eigene Faust an schöne Orte gefahren. York ist praktischerweise genau zwischen Ostküste und Yorkshire Dales gelegen, so dass sich Tagesausflüge in atemberaubende Buchten oder kleine Wanderungen durch die Hügel der Dales wunderbar als Wochenend-Unternehmungen anbieten. Aber auch eine Fahrt ins pittoreske Harrogate oder ins modernere Leeds lohnt sich, und die Zeit in den vorlesungsfreien Wochen sollte auf jeden Fall für ausgiebigere Reisen genutzt werden.
Ich hatte noch viele weitere Pläne für Ausflüge und Urlaube – Manchester, Liverpool, Edinburgh, Wales, das Lake-District – doch als der Corona-Lockdown (auf den die Uni sehr unkompliziert mit Online-Vorlesungen reagierte) mir einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, durfte ich aufs Neue lernen: Manchmal muss man gar nicht so weit gucken, um schöne Orte zu finden – das meiste befindet sich direkt vor der Haustür. York ist wunderbar grün und offen, und Spazier- und Radwege finden sich an nahezu jeder Ecke und führen stets in neue, unbekannte Gegenden.
Die Stadt und die Umgebung sind wirklich wundervoll, und um all das bestmöglich ausschöpfen zu können, gibt es ein paar praktische Tipps, die mir sehr geholfen haben – und den Geldbeutel schonen…
Negatives kann ich an meiner Zeit hier wenig finden. Was mir vielleicht manchmal gefehlt hat, ist das Sicherheitsnetz aus Freunden und Gewohnheiten, das man sich Zuhause aufgebaut hat und für das man an einem neuen Ort in einem fremden Land erstmal einen guten Ersatz finden muss. Die beste Medizin dagegen ist allerdings, sich von den anfänglich fehlenden Bekanntschaften nicht abschrecken zu lassen und so viel wie möglich allein zu unternehmen – so findet man dann nämlich plötzlich Gleichgesinnte, die zu Freunden werden und spinnt sich ein neues Netz. Und der Wasserdruck in englischen Leitungen ist nicht so der Renner – duschen funktioniert nur, wenn niemand im Haus auf die Idee kommt, gleichzeitig Teewasser zu kochen.
Den größten Gewinn aus diesem Jahr kann ich wohl aus dem faszinierenden Studienangebot ziehen (mit forensischer Phonetik werde ich mich von nun an definitiv weiterhin beschäftigen!) und aus der ausgeprägten Theaterkultur, die ich von zwei Seiten erleben durfte. Aber auch das Eintauchen in die Sprache, das Schließen neuer Freundschaften und der neue Blick, sowohl auf die Gast-Kultur als auch, damit einhergehend, auf die eigene Kultur zuhause, werden so schnell nicht ihre Wirkung auf mich verlieren.
Letztendlich kann ich sagen, dass ich unendlich dankbar bin für die Zeit, die ich hier verbringen durfte, und ich werde die Stadt und die Leute sehr vermissen. Das Jahr hier und der Kontakt mit anderen Studenten haben mich Einiges über das moderne Großbritannien gelehrt und u.a. meine Sicht auf politische Geschehnisse und Bildungssysteme erweitert. Ich konnte all meine literarisch-romantischen Vorstellungen 'verwirklichen' und hatte gleichzeitig die Chance, politische Entwicklungen wie den Brexit und soziale Unzufriedenheiten hautnah mitzuverfolgen und auch die dreckigeren Seiten des Landes kennenzulernen. Für mich hat England durch den Austausch nichts an seinem gemütlichen Charme verloren, aber viel an authentischer Lebenswirklichkeit dazugewonnen."