"Ich wollte der Frage auf den Grund gehen, warum Menschen grausame Verbrechen begehen"

Alumni
Featurebild Alumna Gilda Giebel

Ein Mann lebt seine sexuellen Fantasien auf grausame Weise an Frauen aus. Zuletzt tötet er eines seiner Opfer. Nach einem Vierteljahrhundert hinter Gittern soll er wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Seine Entlassung hängt auch von der Einschätzung seiner Psychologin ab: Wird der Mann in Freiheit strafrückfällig? Die Psychologin, die das beurteilen soll, ist Gilda Giebel. Bei ihrer Arbeit in der Sicherungsverwahrung einer Justizvollzugsanstalt hatte sie täglich mit höchst gefährlichen Straftätern zu tun. Jetzt hat sie ein Buch geschrieben, das einen Einblick in menschliche Abgründe gewährt. In unserem Campusblog erzählt Gilda Giebel, wie alles angefangen hat. Nämlich 2005 – mit einem Studium der Lehr-, Lern- und Trainingspsychologie (LLTP) an der Universität Erfurt...

Wie kam es, dass Sie in Erfurt LLTP studiert haben, und was hat Sie an diesem Studium in Erfurt gereizt?
Als ich 2005 Abitur gemacht habe, fand ich das Bachelor- und Mastersystem interessant, weil man nach dem Bachelor entweder direkt ins Berufsleben einsteigen oder einen neuen inhaltlichen Schwerpunkt oder einen neuen Studienort für den Master auswählen konnte. Damals gab es in nur wenigen deutschen Städten die Möglichkeit, Psychologie im Bachelor/Master zu studieren. Erfurt war eine davon. Die Stadt hat mir wegen ihrer überschaubaren Größe, der Schönheit der Innenstadt und der freundlichen Bewohner gefallen. Und der Unicampus ist überschaubar, sehr grün und man kommt schnell in Kontakt mit anderen Studierenden und Professorinnen. Zudem hat mir die breite Auswahl an Nebenfächern gefallen. Ich habe mich dann für LLTP im Hauptfach und Religionswissenschaft im Nebenfach entschieden.  

Und wie entstand das Interesse an der Arbeit mit Gewalt- und Sexualstraftätern?
Bereits vor dem Psychologie-Studium habe ich mich gefragt, warum manche Menschen grausame Verbrechen begehen. Filme wie „Funny Games“ haben mich darin bestärkt, Psychologie zu studieren und dieser Frage auf den Grund zu gehen. Den Psychologie-Master habe ich dann in Konstanz gemacht. Dort gab es die Möglichkeit, Lehrveranstaltungen in forensischer Psychologie zu besuchen, was ich sofort mit Begeisterung getan habe. Nach meiner Doktorarbeit, bei der es um Vergnügen an Gewalt ging und darum, ob Frauen dominante und sogar aggressive Männer attraktiv finden, habe ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) in einem Forschungsprojekt über Amokläufer und School Shooter gearbeitet. Ich habe zahlreiche Akten über junge Männer und Frauen gelesen und ausgewertet, die Tötungsdelikte begangen haben. Die Arbeit war spannend, aber irgendwie auch abstrakt, da ich kaum Straftätern begegnet bin. Um mit Menschen zu arbeiten, die tatsächlich Straftaten begangen haben, habe ich mich zum Ende des Forschungsprojekts gezielt auf Stellen in Justizvollzugsanstalten beworben und eine Zusage für die Arbeit in der Sicherungsverwahrung bekommen.

Wie muss man sich diese Sicherungsverwahrung vorstellen?
Die Sicherungsverwahrung ist eine Einrichtung, in der gefährliche Gewalt-und Sexualstraftäter zum Schutz der Gesellschaft untergebracht sind. Es befinden sich nur Männer darin, die wiederholt Gewalt,- und/oder Sexualstraftaten mit hohem Opferschaden begangen haben, dafür bestraft wurden, und dennoch wieder rückfällig geworden sind und somit nicht aus ihren Fehlern gelernt haben. Die Sicherungsverwahrung schließt sich zeitlich an das Verbüßen einer Haftstrafe an. Sie dient nicht der Bestrafung, sondern dem Schutz der Gesellschaft. Die Verwahrten können aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden, wenn sie bei der Therapie mitwirken und ihre Gefährlichkeit verringern. Ein Team aus Sozialarbeitern, Psychologen und dem allgemeinen Vollzugsdienst unterstützt sie bei dieser prosozialen Veränderung. Mein Auftrag in der Sicherungsverwahrung war es, die Männer durch Kriminaltherapie weniger gefährlich zu machen, aber auch deren Fortschritte und noch bestehende Gefährlichkeit einzuschätzen und meine Einschätzung vor Gericht zu vertreten.

Für eine solche Arbeit muss man also ziemlich tough sein, hatten Sie nie Angst?
Ich hatte auf jeden Fall Respekt vor der Arbeit und habe mir immer wieder vor Augen geführt, mit welchen gefährlichen Menschen ich es täglich zu tun habe. In keinem anderen Bereich ist die Dichte an Psychopathen so hoch wie in der Sicherungsverwahrung. Psychopathen sind sehr manipulativ, gefühllos und haben kein Gewissen. Das sollte man bei der Arbeit mit ihnen immer im Hinterkopf behalten, um sich nicht täuschen zu lassen. Es gab auch ein paar Momente, in denen ich tatsächlich Angst hatte. Ich war aber nie in einer Situation, in der ich tatsächlich den Alarmknopf auslösen musste. 

Was war Ihre wichtigste Erkenntnis aus dieser Arbeit?
Vor meiner Tätigkeit in der Sicherungsverwahrung hatte ich die Vorstellung, dass sich Psychopathen sehr ähneln und deshalb ähnliche Empfindungen bei mir auslösen würden. Das war in der Realität überhaupt nicht so. Die Männer mit psychopathischen Eigenschaften wirkten sehr unterschiedlich auf mich. Manche von ihnen waren sympathisch, beinahe kumpelhaft, andere wirkten unangenehm oder waren sehr impulsiv. Ich beschreibe deren Wirkung auf mich auch in meinem Buch.

Die Sicherungsverwahrung ist ein extremes Spannungsfeld. Die meisten Menschen sind von Sexualstraftätern angewidert und wünschen sich, dass sie lebenslang sicher verwahrt bleiben. Die Sicherungsverwahrten selbst nehmen die Verwahrung als ungerecht wahr, da sie ihre Haftstrafe bereits verbüßt haben und nur präventiv verwahrt bleiben. Ich habe täglich in diesem Spannungsfeld gearbeitet und habe mich daran gewöhnt, es nicht auflösen zu können. Ich habe sozusagen meine Ambiguitätstoleranz gestärkt. Außerdem hat mir die Arbeit verdeutlicht, wie schwer es ist, einen therapeutischen Einfluss auf Menschen mit Persönlichkeitsstörungen zu nehmen. Verhaltens-und Einstellungsänderungen finden nur sehr langsam oder oft gar nicht statt. Das liegt aber vor allem an den schweren Persönlichkeitsstörungen und daran, dass einige Verwahrte beispielsweise gar nicht daran interessiert sind, ihre deviante Sexualität aufzugeben, um dadurch keine neuen Opfer mehr zu produzieren, sondern sie sich um jeden Preis bewahren möchten.

Was bietet Ihr Buch den Lesern oder anders gefragt: Warum sollte man Ihr Buch lesen?
Menschen, die sich nicht nur für True Crime interessieren, sondern auch erfahren wollen, wie gefährliche Gewalt-und Sexualstraftäter in geschlossenen Einrichtungen bzw. während der Therapie agieren und dabei auf ihre Mitmenschen wirken, sollten dieses Buch lesen. Ich beschreibe darin, welche Erfahrungen ich als Frau und Psychologin mit gefährlichen Sexualstraftätern gesammelt habe und was sie bei mir ausgelöst haben. Das Buch ist für alle Menschen interessant, die verstehen wollen, was gefährliche Menschen ausmacht und woran man sie im Alltag erkennen kann. Denn nicht alle gefährlichen Menschen, wie zum Beispiel Psychopathen, sind inhaftiert. Ganz im Gegenteil: Man kann ihnen auch im alltäglichen Leben begegnen. Beispielsweise ist der Anteil an Psychopathen in Führungspositionen von Unternehmen höher als in der Normalbevölkerung und es kann sein, dass Ihr Chef einen hohen Psychopathie-Wert hat, worunter Sie und andere Menschen leiden. In dem Buch erkläre ich auch, warum gefährliche Männer nicht unbedingt abstoßend auf uns wirken, sondern im Gegenteil eine besonders anziehende Wirkung zum Beispiel auf Frauen haben können und es schaffen, diese für sich zu gewinnen. Ich verbinde damit meine Erfahrungen, die ich in der Sicherungsverwahrung gesammelt habe, mit dem Thema meiner Doktorarbeit, in der ich Partnerpräferenzen von Frauen in Hinblick auf männliche Dominanz und Aggression untersucht habe. Menschen, die sich fragen, warum Bad Boys wie Jeremy Meeks oder sogar inhaftierte Serientäter so erfolgreich bei Frauen sind, finden Antworten auf dieses scheinbar paradoxe Phänomen in meinem Buch.

Arbeiten Sie nach wie vor als Psychologin oder widmen Sie sich heute ausschließlich dem Schreiben?
Nein, ich arbeite als Psychologin für eine deutsche Sicherheitsbehörde und erstelle für sie Gefährlichkeitsprognosen. Aber nebenbei schreibe ich Bücher.

Wie hat Sie das Studium an der Uni Erfurt auf den späteren Beruf vorbereitet?
Das Studium an der Uni-Erfurt hat mich vor allem sehr gut auf das wissenschaftliche Arbeiten vorbereitet. Die Methodenlehre in LLTP ist sehr gut und der Praxisbezug aufgrund der Möglichkeit schnell eigenständig Studien zu konzipieren und durchzuführen (z.B. im Rahmen des Empras und der Bachelor-Arbeit) ist hervorragend. Das Studium an der Uni Erfurt hat mich damit sehr gut auf die Konzeption und Durchführung von Studien im Rahmen meiner Master- und Doktorarbeit vorbereitet und damit den Grundstein für wissenschaftliches Denken und meine berufliche Perspektive gelegt.

Was mochten Sie an Ihrem Studium und an der Uni Erfurt?
Ich mochte die große, moderne Bibliothek, die Nähe der Gebäude auf den Campus, die kreativen Inhalte dem Studium Fundamentale. Eines meiner Lieblings-Seminare war "Grenze, Grenzsituation und Todesnähe" – eine Mischung aus den Disziplinen Theologie und Sportwissenschaft. Aber ich erinnere mich auch gern an die netten Professorinnen und Professoren, die sehr nahbar waren, und internationale Projekte mit Studierenden aus verschiedenen Ländern – zum Beispiel die Summer School „Muslims in the West“, an der ich 2006 teilgenommen habe.

Haben Sie einen Tipp für heutige oder künftige LLTP-Studierende oder etwas, das Sie ihnen mit auf den Weg geben würden?
Mein Tipp ist, das Studium zu genießen und dabei auch mal Seminare zu Themen zu besuchen, über die man noch wenig weiß. Dabei sollten sich die Studierenden weniger Sorgen darüber machen, was bei zukünftigen Arbeitgebern gut ankommen könnte, sondern vielfältige Erfahrungen sammeln, um ihren Horizont zu erweitern. Die Uni Erfurt hat ein großartiges und sehr kreatives Lehrangebot, das Studierende nutzen sollten. Ich persönlich konnte sehr davon profitieren und denke mit positiven Gefühlen an das Studium zurück.

Neugierig geworden?

Wenn Sie mehr zum Buch von Gilda Giebel erfahren möchten, schauen Sie doch bei der "Langen Nacht der Wissenschaften" am 8. November 2024 an der Universität Erfurt vorbei. An diesem Abend liest die Autorin bei uns live aus ihrem Buch.

Lange Nacht der Wissenschaften

Gilda Giebel
Triebhaft – Zwischen Narzissten, Sadisten und Psychopathen: Was ich als Psychologin in der Sicherungsverwahrung erlebt habe
Riva Verlag, 2024
ISBN-10: 742327550
272 Seiten
22 Euro