"Ich glaube an die Idee eines vereinten Europas"

International , On Campus , Zwischen Mensa und Hörsaal
Teaserbild On_Campus_Valeriia

Krieg in Europa? Direkt vor ihrer Haustür? Das hätte sich Valeriia Ziziukina früher nicht vorstellen können. Und auch als im Februar 2022 die ersten Detonationen in ihrer ukrainischen Heimat Charkiw zu hören waren und die Mutter sie mitten in der Nacht aufweckte, dachte sie nicht, dass das der Beginn von etwas sein könnte, das ihr ganzes Leben und das des ukrainische Volkes verändern könnte. "Klar, es gab immer eine gewisse Bedrohung durch Russland, das die Ukraine nicht als souveränen Staat anerkennen wollte, aber dass Putin so weit gehen würde, das habe ich nie geglaubt", sagt die heute 23-Jährige. Und dann kamen Sie doch: die Bomben, die Zerstörung, der Hass, die Gewalt. Die "Front" war auf einmal nur 80 Kilometer von ihrem Schlafzimmer entfernt. Was das Ganze mit der Universität Erfurt zu tun, soll hier erzählt werden...

Valeriia lebt mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater in einer gemeinsamen Wohnung in Charkiw. Sie hat wunderbare Freunde, studiert an der Universität Deutsch und Anglistik – um irgendwann vielleicht Übersetzerin zu werden. Sie hat ein gutes Leben. Auch die Oma wohnt in der Nähe, freut sich über ihr kleines Gemüsegärtchen. Niemand denkt an einen Krieg. Bis er kommt.

"Uns ist dann aber doch schnell klar geworden, dass wir erstmal wegmüssen, uns in Sicherheit bringen", erinnert sich Valeriia. Und so packen sie und ihre Mutter noch am 3. März 2022 das Nötigste zusammen – was man eben mit zwei Händen so tragen kann – und brechen auf in Richtung Westen, an die polnische Grenze. Von dort soll es mit dem Bus für eine Weile nach Polen gehen, bis das Schlimmste vorüber ist. Der Abschied fällt schwer. Auch, weil der Stiefvater in Charkiw bleibt. Der Familie ist klar: Man würde ihn nicht über die Grenze lassen. Die Männer werden als Soldaten gebraucht. Aber der Stiefvater macht Valeriia und ihrer Mutter Mut: Es wird sicher schnell vorbei sein und dann werden alle wieder in ihr altes Leben zurückkehren. Niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass sie sich bis heute nicht wiedersehen würden...

In der West-Ukraine angekommen, finden sich Valeriia und ihre Mutter auf einem Bahnhof wieder. Menschen über Menschen. Alle bepackt mit dem, was sie tragen und von zu Hause retten können. Sie steigen in den Bus – nur, dass der nicht nach Polen fährt, sondern nach Deutschland. Der Anfang von, wenn man so sagen will, "glücklichen" Zufällen und Umständen, die das Leben der jungen Frau und ihrer Mutter auf ein ganz neues Gleis setzen werden.

"Der Bus brachte uns nach Bad Liebenstein in Thüringen", erinnert sich Valeriia. Die Erschöpfung der Fahrgäste ist groß bei ihrer Ankunft – körperlich wie emotional. Aber auch die Hilfsbereitschaft im Ort. Die Geflüchteten werden herzlich empfangen, Bürgermeister Michael Brodführer und sein Team organisieren Gastfamilien, in denen die Ukrainer erst einmal unterkommen und durchatmen können. Auch Valeriia und ihre Mutter. Die beiden sind unendlich dankbar und beginnen sofort, zu helfen: Die Mutter im Krankenhaus, Valeriia unterstützt die Ankunft weiterer Landsleute als Übersetzerin, hilft beim Organisieren – das Deutsch-Studium, das sie in der Ukraine begonnen hatte, erweist sich hier als unendlich hilfreich. Und wenn sie das gerade nicht tut, arbeitet sie weiter an ihrem Abschluss an der Uni Charkiw – das Studium läuft inzwischen nur noch online. Wo sie die Kraft dafür hergenommen hat, fragen wir die junge Frau. "Die Frage hat sich mir gar nicht gestellt", antwortet sie. "Ich konnte doch nicht all die Mühe der vergangenen Studienjahre umsonst gewesen sein lassen." Im Dezember 2022 schafft sie den Abschluss. Das macht ihr Mut, gibt ihr Kraft. Dass die junge Frau ein ganz besonderer Mensch ist, fällt auch der Frau des Bad Liebensteiner Bürgermeisters auf. Die arbeitet an der Universität Erfurt und macht Valeriia neugierig. Das Engagement, die Sprachkenntnisse, der Wille, etwas zu verändern – das würde doch auch gut zu einem Studium im Master of Public Policy an der Willy Brandt School der Universität Erfurt passen. Hier kommen junge Menschen zusammen, die ähnliche Ambitionen haben...

Valeriia überlegt nur kurz. Die Idee ist verlockend, aber zwei Dinge sind noch zu tun: Die "Babusya", die Oma, muss aus Charkiw nachgeholt, die Finanzierung des Studiums geklärt werden. Auch wenn es der Oma zunächst schwerfällt, den Gemüsegarten und die Heimat aufzugeben, kommt sie dann doch. Der Krieg verändert eben alles. Bei der Studienfinanzierung hilft die Konrad-Adenauer-Stiftung mit einem Stipendium. Und so startet Valeriia im Oktober 2022 ihr Public-Policy-Master-Studium an der Universität Erfurt.

"Es fühlt sich manchmal irgendwie unwirklich an, was in den vergangenen eineinhalb Jahren alles passiert ist", sagt die heute 23-Jährige. Mein ganzes Leben hat sich verändert. Während ihre Mutter und ihre Oma nach wie vor in Bad Liebenstein leben – inzwischen in einer eigenen kleinen Wohnung –, wohnt Valeriia mittlerweile in Erfurt im Studentenwohnheim. Und auch ihre Schulfreundin aus Charkiw ist inzwischen in Thüringen. Das ist ein Trost, irgendwie. "Für meine Mutter und meine Oma ist das vielleicht anders – die vermissen die alte 'Heimat' und die alte Wohnung, die – Stand heute – noch nicht von Bomben zerstört ist, aber leer steht. Aber ich fühle mich auf eine gewisse Art zu Hause in Erfurt", sagt Valeriia. "Damals, als ich mein Studium in der Ukraine aufgenommen habe, dachte ich, ich würde eines Tages nach München oder Berlin gehen und dort eine tollen Job finden. Jetzt bin ich – eigentlich durch die Aneinanderreihung von Zufällen – in Erfurt gelandet, einer Stadt, von der ich zuvor nie gehört hatte, und bin sehr froh darüber. Ich fühle mich wohl hier, nicht zuletzt an der Uni bzw. an der Brandt School. Die ist wie eine kleine Familie. Eine sehr bunte Familie. Der Campus ist offen für all die Vielfalt, ich erlebe gute Diskussionen, kann mich an spannenden Projekten beteiligen, meine Ideen einbringen und am Ende auch umsetzen. Das gefällt mir." Und so engagiert sich Valeriia inzwischen u.a. im Studierendenrat und im Aufgabenfeld Diversität an der Universität.

Wie ihr Leben weitergeht? "Das weiß ich nicht. Im Grunde ist doch nichts mehr sicher. Wer hätte denn gedacht, dass dieser Krieg so lange dauern würde? Das Einzige, was ich weiß, ist, dass die Ukrainer ein stolzes Volk sind und dass sie nicht aufgeben werden, ihre Freiheit zu verteidigen", sagt die junge Frau. Und schaut nach vorn. Erstmal den Abschluss machen. Ein Praktikum im übernächsten Semester. Irgendwo, wo sie sich im Bereich Migration, internationaler Zusammenarbeit, einbringen kann. Das wäre auch eine Job-Option. Hauptsache, etwas bewegen. Menschen helfen, sie zusammenbringen, für Toleranz und ein friedliches Miteinander kämpfen. Die eigene Geschichte, ihre Erfahrungen, werden Valeriia am Ende dabei sicher einen Vorteil bringen. Davon ist sie überzeugt. Aber auch die scheinbar unendliche Kraft, die diese junge Frau aufbringt, um "ihr Ding zu machen" und zugleich etwas für andere zu bewegen.

Die vergangenen eineinhalb Jahre haben für Valeriia Ziziukina viel verändert. Ihr Leben auf den Kopf gestellt. Wolodymyr Selenskyj? Den habe sie seinerzeit nicht gewählt. "Der war für mich einer, der politische Witze machte, der Schauspieler aus der Serie 'Diener des Volkes'. Jetzt ist er so etwas wie ein 'Hero'. Was er zu leisten im Stande war, das beeindruckt mich ebenso wie das ukrainische Volk, das er durch diese Zeiten führt. Beide geben die Hoffnung nicht auf und glauben daran, dass am Ende alles gut wird. Auch ich möchte daran glauben." Und wenn sie sich sonst noch etwas wünschen dürfte? Valeriia muss nicht lange überlegen: "Dass die Ukraine Teil der Europäischen Union wird. Ich glaube an die Idee eines vereinten Europas und ich wünsche mir, dass die Ukraine, der Ort, an dem ich meine Wurzeln habe, eines Tages Teil der europäischen Familie wird."