Ein Dude forscht in der "Bibliotheca Amploniana"

Vorgestellt
Bücher in der Bibliotheca Amploniana

Mal Hand aufs Herz: Die Berufsbezeichnung "Professor für Philosophie des Mittelalters" weckt bei so manchem schnell Stereotype: Zum Beispiel das eines ernsten Theoretikers, der – natürlich abgeschottet von der dem Mittelalter so fernen Gegenwart – alte Bücher wälzt und dabei ständig irgendwelche Thesen in ein schwarzes Notizheft schreibt. Wer aber Anthony Celano kennenlernt, wird eines Besseren belehrt: Denn der amerikanische Philosophie-Professor und Amplonius-Stipendiat, der gerade für drei Monate an der Universität Erfurt forscht, ist Praktiker durch und durch. Vor seiner Professorenlaufbahn arbeitete er jahrelang  als Dachdecker, um sich sein Studium zu finanzieren. Er spielt Baseball, Tennis und Basketball – und das auch gern mit oder gegen seine Studenten am Stonehill College in Easton, die seine offene, lockere Art zu schätzen wissen und ihn freundschaftlich mit "Hey Dude" oder "Hey Celano" grüßen.

Hammer, Nagel und Haubrücke des Dachdeckerjobs hat Celano als Forscher der mittelalterlichen Philosophie dennoch gern eingetauscht – gegen Bleistift, Block und Lupe. Damit ausgerüstet, sitzt er nun in der "Bibliotheca Amploniana", die in der Universitätsbibliothek Erfurt bewahrt und erforscht wird, über einem Buch aus dem 13. Jahrhundert – und wird dann doch ein wenig zu jenem imaginierten Professor: Denn dann macht er über Stunden und Seiten hinweg Notizen in seinen Block und vergisst tatsächlich ein bisschen die Welt um sich herum. "Hier bin ich ganz allein mit einem Jahrhunderte alten Buch", schwärmt Celano in seinem amerikanischen Akzent. "Das ist sehr entspannend. Manchmal vergesse ich dabei alles andere und muss dann erst einmal wieder ins richtige Jahrhundert zurückkommen." Dieses Gefühl sei in der alten "Bibliotheca Amploniana", als diese noch in der wissenschaftlichen Sondersammlung der Stadt- und Regionalbibliothek in der Erfurter Altstadt untergebracht war, noch stärker gewesen: Bereits damals, 1998, kam Anthony Celano nach Erfurt, um an der Handschriftensammlung des Amplonius' zu recherchieren. "Die 'Amploniana' begleitet mich schon seit dem Studium. Bei meinem Examen an der Graduate School war meine erste Prüfungsfrage: Wo befindet sich die 'Amploniana'?", erinnert sich der 60-Jährige. "Ein guter Anfang", findet er und meint damit nicht nur seine Beziehung zur "Amploniana", sondern auch zu Erfurt selbst. "Ich mag die Stadt und die Menschen sehr, habe hier gute Freunde gefunden und bin einfach gern in Erfurt. Und ich bleibe ein Ossi", sagt der Philosoph, der Ende der 70er-Jahre seinen ersten Forschungsaufenthalt in Freiburg verbrachte, lachend. 20 Jahre nach eben dieser Examensfrage zieht es ihn immer wieder nach Erfurt und natürlich zur "Amploniana". Das erste Mal 1998, als die wiedergegründete Universität Erfurt gerade den Lehrbetrieb wieder aufbaute: "Damals gab es noch keine Möglichkeit als Wissenschaftler nach Erfurt zu kommen, denn die Universität wie sie heute ist, gab es noch nicht". Deshalb wurde Celano Fulbright-Dozent an der Universität Jena und pendelte an zwei bis drei Tagen in der Woche nach Erfurt. In den Jahren 2001 und 2005 folgten dann jeweils dreimonatige Forschungsaufenthalte an der Universität Erfurt, an die er nun seit Mitte Mai als Amplonius-Stipendiat zurückgekehrt ist. Mit dem Stipendium, das jährlich von der Katholisch-Theologischen Fakultät vergeben wird, möchte Celano vor allem die Systematik erforschen, mit welcher der Mediziner und Gelehrte Amplonius Rating de Berka Schriften erwarb und sammelte: "Ein großer Teil der Werke ist aus dem Bereich der Theologie, obwohl Amplonius ja eigentlich Arzt war. Vielleicht ist er ja gar nicht systematisch vorgegangen, sondern musste das, was er irgendwo gesehen hatte, einfach erwerben – für seine Lehre oder einfach nur, um es zu haben".

Heute ist die "Bibliotheca Amploniana" mit einem Bestand von 979 Handschriftenbänden die weltweit größte geschlossene Sammlung eines spätmittelalterlichen Gelehrten. Etwa 70 dieser gesammelten Schriften möchte Anthony Celano während seines Aufenthaltes in Erfurt untersuchen. Im Moment sitzt er über einem Text von Aristoteles, der im 13. Jahrhundert wahrscheinlich von einem französischen Magister zu Lehrzwecken aufgeschrieben wurde. "Der Text selbst ist bekannt und interessiert mich nicht so sehr", sagt Celano und streicht liebevoll über das in rotes Leder eingebundene Buch. Vielmehr interessiere ihn – neben der Erforschung von Amplonius' Sammlungssystematik – die Rezeptionsgeschichte der Texte. Er transkribiert die Marginalien, Notizen und Kritzeleien, mit denen Studenten im Laufe der Jahrhunderte Inhalt, Professor oder Unterricht kommentierten. Mehr als Block, Lupe und einen Bleistift mit harter Mine, der die fragilen Werke nicht mit Tinte beschädigen könnte,  braucht er dafür nicht: "Andere arbeiten lieber mit Mikrofilmen, aber dann müsste ich ja ungefähr wissen, was ich suche. Das Beste entdeckt man doch zufällig!" Celano schlägt die letzten, eigentlich leeren Seiten des Buches auf und geht mit seiner Lupe über die Zeichnungen und das Buchstaben-Gekritzel. "Hier steht zum Beispiel: Dieser Magister ist nicht sehr intelligent", lacht er. "Auf Latein und alles in abgekürzten Silben. Das stammt wahrscheinlich von einem Studenten aus dem 15. Jahrhundert." Er schließt den holzverstärkten Umschlag des Buches und drückt die Krampe an den Lederlangschließen in die sogenannten Schließenblättchen des Buchdeckels. "Drei oder vier Stunden am Stück über einer alten Schrift zu brüten, das reicht für einen Tag", sagt der Amerikaner. Am Nachmittag wird Celano in seiner Unterkunft im Internationalen Begegnungszentrum der Universität Erfurt weiterarbeiten und noch einige Stunden seine heutigen Transkriptionen mit anderen Texten der Zeit vergleichen.

Die Ergebnisse seiner früheren Forschungsaufenthalte in Erfurt hat er bereits in Zeitschriften des Mittelalters veröffentlicht. Das erhofft er sich auch von seinen neuen Erkenntnissen, die er gern zum Anlass nehmen möchte, auch später wieder nach Erfurt zurückzukehren. Für den Moment macht der Forscher der mittelalterlichen Philosophie aber erst einmal eine Denkpause. Zum Werkzeug greifen wird er jetzt sicher nicht, nach einem Cappuccino in der Klause aber vielleicht noch zum Tennisschläger oder Basketball...