Der Titel des Seminars ist nicht nur bei den Inhalten Programm: Nur fünf Kommilitonen bilden das kleine Kollegium in Prof. Dr. Martin Mulsows Gemmen-Seminar "Die Wichtigkeit der kleinen Dinge". Alle zwei Wochen trifft sich der Direktor des Forschungszentrums Gotha der Universität Erfurt mit einigen Studierenden des Master-Studienganges Sammlungsbezogene Wissens- und Kulturgeschichte (SWK), um in diesem familiären Kreis über Gemmen und andere Miniaturen der Antike und Frühen Neuzeit zu sprechen. Ein Seminar zum Anfassen, denn hier bleibt es nicht bei einer theoretischen Auseinandersetzung mit diesen kleinen gravierten Schmucksteinen. Durch die Nähe des Studienganges zu den Sammlungen der Stiftung Schloss Friedenstein und denen der Forschungsbibliothek Gotha können die Studierenden auch echte Gemmen in die Hand nehmen und in alten Gemmen-Büchern blättern. Einblicke in einen Tag als SWK-Student …
Im Seminarraum des Forschungszentrums ist es noch ruhig. Professor Mulsow steht zwar schon in den Startlöchern – Script und Bücher sind bereitgelegt, die Powerpoint-Präsentation läuft. Aber noch sind nicht alle Studierenden in Gotha angekommen. Mulsow nutzt die verbleibende Zeit bis zum Seminarbeginn, um kurz zu erläutern, wie er überhaupt dazu kam, Gemmen zum Seminar-Thema zu machen: "Gemmen sind ganz faszinierende kleine Gegenstände", schwärmt er. "Die Friedenstein-Stiftung hat ja eine große Münzsammlung, weshalb ich auch schon ein Münzseminar gegeben habe. Und zu dieser Münzsammlung gehört auch eine Sammlung von Gemmen, die ebenfalls einmal eine große Sammlung war. Das meiste ist als Kriegsbeute verloren gegangen, aber es gibt noch einen Restbestand. Und mit diesen verbleibenden Stücken wollte ich arbeiten und mit den Studierenden Fragen auf den Grund gehen wie: Welche Bedeutung hatten Gemmen in der Antike und der Frühen Neuzeit? Wie wurde sich seitdem damit auseinandergesetzt? Und was hat es mit der Miniaturisierung überhaupt auf sich – warum verkleinert man Dinge und was passiert dadurch? …" Mulsow stoppt als die letzten Studierenden ankommen. Nun muss es sofort losgehen, denn das dreistündige Seminar-Programm ist durchgeplant – inklusive Besuch des Münzkabinetts der Stiftung und der Gemmen-Bücher der Forschungsbibliothek.
Zuvor gibt der Professor aber erst einmal einen Einblick in eine neue Facette der Schmucksteine. Dieses Mal dreht sich alles um magische Gemmen: Gemmen, die als Talisman in bestimmten Riten und Gebetsritualen Verwendung fanden. Mulsow taucht ein in die Mythen- und Götterwelten Ägyptens, deren Symbole häufig auf den kleinen Schmucksteinen in zum Teil faszinierender Präzision abgebildet wurden. Er liest wilde Ritenbeschreibungen vor und erzählt Geschichten zu unterschiedlichen Arten von Gemmen. Schnell vergeht die Zeit in dieser Welt der rätselhaften Mischwesen und kosmischen Geheimnisse. Eigentlich müsste die Gruppe schon wieder auf dem Sprung ins Münzkabinett sein. Martin Mulsow nimmt sich nach dem magischen Exkurs aber noch die Zeit für ein ganz irdisches Thema – Hausarbeiten. Bei einer größeren Anzahl von Seminarteilnehmern undenkbar kann sich der Professor hier die Wünsche und Ideen jedes Einzelnen anhören, kann Themenanregungen und Literaturtipps geben, mögliche Ansprechpartner nennen und bei Sprachproblemen, die die lateinische, französische oder griechische Literatur mit sich bringt, Unterstützung zusagen. Dann drängt die Zeit aber wirklich. "Dieses Mal habe ich noch ein paar mehr Lupen mitgebracht", lacht Mulsow und zieht sich die Jacke über. Auch für die Studierenden heißt es: Mitschriften einpacken, schnell noch einen Bissen nehmen und ab über den Schlosshof in den Westflügel des Friedenstein. Hier wartet schon Uta Wallenstein, die Betreuerin der Münz- und Gemmensammlung der Stiftung. Sie hat sich gut vorbereitet, eine Fülle von schönen Gemmen für die Studierenden rausgesucht. In ihrem Arbeitszimmer nehmen die SWK‘ler um einen antiken Tisch herum Platz. Auf ihm liegen in Papierkästchen und kleinen, mit Samt gepolsterten Holzschubläden die alten Halbedelsteine und warten darauf, dass ihre Abbildungen und einstigen Nutzungsrituale von den Nachwuchswissenschaftlern entschlüsselt werden. Anders als bei der Münzsammlung ist hier vor allem eines erlaubt: anfassen. Die Studierenden können jede Gemme von allen Seiten betrachten, ihr Gewicht schätzen, das Material bestimmen und die eingravierten Abbildungen unter der Lupe betrachten. Die Kästchen werden von einem Platz zum anderen gereicht und schnell entflammen lebhafte Diskussionen über einzelne Exemplare, die trotz Vergrößerungsglas rätselhaft bleiben: Ist hier Dionysos abgebildet, ein Fabelwesen, ein Hahn? Ein Skelett oder doch ein Äffchen? Ist das eine magische Gemme? Ist diese hier aus der Frühen Neuzeit? Uta Wallenstein gefällt das wissenschaftliche Tohuwabohu in ihrem Büro sichtlich. Sie freut sich vor allem, dass jemand auch einmal den kleinen Gemmen Aufmerksamkeit schenkt. "Die großen Sammlungen werden ja meist am schnellsten erforscht", sagt sie. "Aber um sich den kleinen Dingen zu widmen, nehmen sich die wenigsten Zeit. Dabei sind diese Gemmen wunderschön, sehr interessant und auch künstlerisch spannend. Es ist ein Glück, dass es dieses Seminar gibt und es ist für beide Seiten ein Gewinn: Die Studierenden können vor Ort an der Sammlung arbeiten und wir kommen durch neue gemeinsame Erkenntnisse zu den Objekten wieder ein Stück bei deren Bestimmung weiter".
Gleiches gilt auch für die Arbeit an den Gemmen-Büchern der Forschungsbibliothek, die dritte Station des heutigen Seminars. Sie ermöglichen es, die frühe Rezeption und Katalogisierungsweisen von Gemmen zu erschließen und andere Gemmen als die der Stiftung Schloss Friedenstein kennenzulernen. Auch beim Blättern in den alten Büchern fällt Martin Mulsow zu den meisten mythischen Abbildungen und Personen irgendeine Geschichte ein. So bleibt das Seminar selbst nach fast drei Stunden noch interessant und steht damit irgendwie auch stellvertretend für den ganzen Studiengang Sammlungsbezogene Wissens- und Kulturgeschichte. Dieser bereitet nämlich auf eine spätere Arbeit mit historischen Sammlungen vor, indem er seine Studierenden schon jetzt aktiv an historischen Sammlungen arbeiten lässt – und das macht bereits das Studium in diesem kleinen auserwählten Kreis überaus spannend.